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Entwicklungszusammenarbeit möchte die Welt durch Kooperation gerechter und gesünder machen. Engagierte aus allen Ländern – sowohl Reiche als auch Arme, bauen organisatorische Ketten, um einander bei ihrem Bestreben für eine bessere Welt zu unterstützen.

In postkolonialen Theorien wird festgestellt, dass unser globales Machtsystem nicht nur eine Erbe sondern auch eine Weiterführung des Kolonialismus ist. Obwohl die imperialistische Mächte in Westeuropa den Rest der Welt nicht mehr direkt beherrschen, nutzen sie die ehemals kolonisierten Länder (nachfolgend „der Globale Süden" genannt) weiter. Zum Beispiel stillt das globale Wirtschaftssystem seinen Ressourcenhunger, ohne die dort wohnenden Bevölkerung am Gewinn zu beteiligen. Noch immer werden die kulturellen und sozialen Traditionen Westeuropas und des englischsprechenden Nordamerikas (nachfolgend: „der Globale Norden“) als hochwertiger bezeichnet. Stimmen aus dem Globalen Süden werden oftmals als chaotisch, exotisch, und primitiv verworfen.

In diesem Kontext arbeiten Nichtregierungsorganisationen, um die Auswirkungen dieses brutalen Systems, unter anderem Armut, Hunger, Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten und Zugang zu Gesundheitsvorsorge, zu bekämpfen. Doch ist es in den letzten paar Jahrzehnten anerkannt worden, was Engagierten im Globalen Süden längst klar war: Dass nördliche Nichtregierungsorganisationen ebenfalls eine stetige Rolle spielen bei der Unterdrückung des Globalen Südens. Mit dem ernsthaft-gemeinten Ziel „unterentwickelte“ Gemeinschaften im Globalen Süden zu helfen, sind viele Organisationen in der Praxis den kulturellen und institutionellen Prioritäten des Globalen Nordens gefolgt, ohne sich mit den Bedürfnissen und Wünschen der Zielgemeinschaften intensiv zu befassen. Statt mit den Menschen, denen ihre Projekte helfen sollen, zusammenzuarbeiten, machen die Projektplaner*innen, Geldgeber*innen, und andere Nichtregierungsfacharbeiter*innen das, was aus ihrer Perspektive für die Gemeinschaft am besten ist.

Auch die Nichtregierungsorganisationen, die Zusammenarbeit auf Augenhöhe als zentrales Ziel haben, finden es schwierig, die Machtunterschiede in ihrer Arbeit zu überwinden. Aber wie können nördliche Nichtregierungsorganisationen trotz der brutalen kolonialen Machtstrukturen effektive und gerechte Projekte im Globalen Süden gestalten?

Nord-Süd Partnerschaft

Alle entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen müssen im Alltag mit den normalen logistischen Herausforderungen eines Vereins (zum Beispiel Finanzierung, Kommunikation mit Mitarbeitenden und Mitgliedern) umgehen. Um die Welt trotzdem gerechter zu machen, müssen sie sich bewusst machen, wie die globale Zusammenhänge auf ihre konkrete Arbeit wirken und auch ihre Projekte und Methoden als Teil des größeren Kontextes verstehen. Hier werden die Erfahrungen einige Mitgliedorganisationen des ENS präsentiert, um zu zeigen, wie solche Projekte in der Wirklichkeit aussehen können.

Es wird sowohl von postkolonialen Akademiker*innen als auch von aktiven Fachleuten aus dem Netzwerk betont, dass alle erfolgreichen und gerechten Projekte echte Zusammenarbeit brauchen. Das heißt, dass die Bevölkerung vor Ort in allen Entscheidungsprozessen auf Augenhöhe miteinbezogen werden muss. Um das zu schaffen arbeiten viele Nichtregierungsorganisationen aus dem globalen Norden mit einer Partnerorganisation in der Zielgemeinschaft (einem sogenannten "Südpartner") zusammen. Doch gerechte Machtverteilungen in solchen Partnerschaften zu schaffen ist nicht einfach. Erstens, haben nördliche Nichtregierungsorganisationen wegen des internationalen Wirtschaftssystems mehr finanzielle Förderung, mit der sie automatisch mehr Kontrolle über die Projekte haben. Zweitens, müssen gemeinsame Entscheidungsprozesse auch die Wirkungen des kulturellen Imperialismus überwinden. Wegen der langen Geschichte von Kolonialismus, verstehen viele Engagierte im Globalen Norden die Sprachen, Traditionen und Wahrnehmungen von Leuten aus dem Globalen Süden nicht. Sie nutzen deshalb unbewusst ihre größere Macht, um in der Zielgemeinschaft etwas zu fördern, was eigentlich nicht gewollt ist.

Wer Geld hat, hat die Macht. In der Arbeit der Nichtregierungsorganisationen heißt das, dass der Nordpartner die Richtung des Projekts vorgeben kann. „Dieses Denken gibt's immer noch, und dieses Tun gibt's immer noch. Die [nördliche] Nichtregierungsorganisationen können die einheimischen Nichtregierungsorganisationen manipulieren, weil sie Geld haben." sagt Elisabeth Nabanja-Makumbi, eine Referentin bei der Gesellschaft für Entwicklung International e.V. (GENINSA). In solchen Situation entstehen Projekte, die die Zielgemeinschaft nicht braucht oder will. Doch es gibt es auch Organisationen, denen diese Machtungleichheit bewusst ist und die eine gerechte Zusammenarbeit mit dem Südpartner anstreben.

Arbeit vor Ort

Marie-Luise Lehmann, Referentin und Vorstandsvorsitzende bei Akifra e.V., sammelt Spenden für das „Father Michael Witte Education Centre" in Kandongu, Kenia. Sie beschreibt ihr Ziel, immer auf Augenhöhe mit ihren Partner zu arbeiten. „Für die Gemeinschaft wollen wir Wachstum, Prosperität, und Verbesserung. Dabei soll die Selbstwirksamkeit der Gruppe gewahrt bleiben." Dafür bemühen sich Frau Lehmann und ihre Mitarbeiter*innen bei Akifra, in allen Entscheidungsprozessen mit dem Partner zu kommunizieren: „Es geht ja nicht darum, sich auf ein Projekt draufzusetzen und zu sagen: 'Wir nehmen das jetzt alles in die Hand und das läuft jetzt hier wie es in Deutschland laufen würde.', sondern wir wollen mit den Vereinsmitgliedern vor Ort zusammenarbeiten und die nur das zu Verfügung zu stellen was sie von uns wünschen." Lehmann kam als Praktikantin mit der Schule in Kontakt und fing an, nach Finanzierungsmöglichkeiten in Deutschland zu suchen. Damit behält der Südpartner seiner Kontrolle über das Projekt.

Beim Verein SAIDA International, der sich weltweit und vor allem in Burkina Faso, Kamerun, und Deutschland für Frauen- und Kinderschutz sowie reproduktiver Gesundheit einsetzt, wurden die Prioritäten von den lokalen Autoritäten festgelegt. Dazu Gründungsmitglied Simone Schwarz: „Die lokalen Partner organisieren sich eigenständig. Die Aufgabe von SAIDA ist die Suche nach finanziellen Mitteln." SAIDA unterstützt zum Beispiel in ihrer Partnergemeinde in Gomboro, Burkina Faso ein Programm für Mädchen, die eine Ausbildung und regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen bekommen, um sie vor Zwangsheirat und Genitalbeschneidung zu schützen.

Arbeit auf personale Ebene

Akifra-Mitarbeiterin Lynn Hövelmann arbeitet auf eine ähnliche Weise mit der Mamre Rural Development Organisation (MARUDO), die von einer Frauengruppe im ländlichen Uganda vor Ort gegründet wurde, zusammen. Mit dem Ziel, jungen Frauen eine Möglichkeit für Selbstbestimmung und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu geben, bietet diese Gruppe seit 2004 fachliche Bildung an. Aus Hövelmanns Sicht ist Kommunikation auf persönlicher Ebene wichtig, um kulturelle und Erfahrungsgrenzen zu überwinden. Die akademische Forschung bestätigt diese Aussage. Nach einen Artikel von Mawdsley et al. (2005), verstärkt der direkte Dialog zwischen Nord- und Südpartner Angesicht-zu-Angesicht eine gute Zusammenarbeit.

Nach Dr. Jürgen Kunze, Gründungsmitglied und Vorstandsitzender der Deutschen-Afrikanischen Gesellschaft (DAFRIG), ist für eine gute persönliche Partnerschaft das wichtigste Charakteristik eine gute Projektleitung. Jedes Projekt bei DAFRIG ist eine Kollaboration mit einem Südpartner und wird von zwei Verantwortlichen geleitet: Ein Verantwortlicher vom DAFRIG-Verein (eng mit dem Vorstand zusammenarbeitend) und ein Verantwortlicher aus dem afrikanischen Land, der vor Ort in der Zielgemeinschaft tätig ist. Kunze erklärt, dass diese Partnerschaft Verständnis und Vertrauen braucht: „Die beiden Leiter müssen kommunizieren können. Die müssen sich wechselseitig anerkennen, sich auf einander verlassen können."

Macht der Geldgeber

Organisationen wie DAFRIG, SAIDA und Akifra bekommen für ihre Projekte von verschiedenen Geldgebern, unter anderem Stiftungen, Schulgruppen und Privatpersonen, Förderung. Diese Geldgeber haben alle ihre individuellen Prioritäten und Erwartungen, zum Beispiel, dass der Nordpartner bestimmte Ziele ausdrücken kann und messbare Wirkungen zeitig aufzeigt. Manchmal kommen diese Voraussetzungen mit den Erwartungen der Südpartner in Konflikt. Gerardo Palacios Borjas, Berater für das ENS, beschreibt dieses Problem aus seiner Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit in Honduras und Deutschland: „Die Entwicklungszusammenarbeiter aus Deutschland haben bestimmte Ziele die sie erreichen müssen und wollen. In Honduras fokussiert man mehr auf die Wirkungen: 'Hat das irgendwas verändert?' Und das sind zwei unterschiedliche Herangehensweisen, weil du messen kannst, ob du Ziel 1, 2, 3, geschafft hast, aber wenn du nicht forschst, ob das eine Veränderung in das Leben von Menschen gebracht hat, dann hast du kein richtiges Ergebnis." Dazu, erzählt Palacios Borjas, ist es in manchen Zielgemeinschaften üblich, alles was von Entwicklungsarbeitern angeboten wird zu nehmen, auch wenn man nicht zustimmt, weil man den Anbieter nicht beleidigen möchte. Solche Probleme können durch langfristigen Partnerschaft und interkulturelles Bewusstsein gemeinsam überwunden werden. Deshalb sind Geldgeber, die sich der postkolonialen Projektführung bewusst sind und Nord-Süd Partnerschaft fördern wollen, sehr wichtig.

Genialsozial: Deine Arbeit gegen Armut" ist eine Initiative von der Sächsischen Jugendstiftung, die Schüler*innen für einen Tag arbeiten schickt und deren Löhne für Projekte im Globalen Süden verwendet werden. Initiativen, die sich um Förderung bewerben, müssen beweisen, dass sie eine lange und beständige Erfahrung mit Nord-Süd-Beziehungen und eine auf Augenhöhe basierende Partnerschaft mit dem Südpartner haben. Projektleiterin Jana Sehmisch sagte, „Uns ist zum einen die Partnerschaft auf Augenhöhe ganz wichtig. Die Bedürfnisse der Zielgruppe im Süden haben oberste Priorität. Wir wollen wissen, ob der Bedarf einer Schule, eines Krankenhauses oder einer Geburtsstation bei den Menschen vor Ort gegeben ist und kommuniziert wurde. Hat der Südpartner die direkte umliegende Bevölkerung einbezogen in diesen Entscheidungsprozess? Ohne das Wollen der Menschen, die vor Ort leben, wird so ein Projekt nicht nachhaltig Bestand haben."

Interkulturelle Kommunikation ist eine der größten Herausforderungen

Um Verständnis und Vertrauen in einer beständigen Partnerschaft auf Augenhöhe sicherstellen zu können, braucht es eine intensive Kommunikation - und zwar zwischen Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erwartungen. Palacios Borjas ist der Meinung, dass diese interkulturelle Kommunikation eine der größten Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit ist: „Einige sagen, dass wir im Süden nicht organisiert sind, aber das stimmt nicht. Wir sind nur anders organisiert, anders strukturiert. Und das zu verstehen, wahrzunehmen, und zu respektieren ist sehr schwierig." Solche Grenzen des Verständnisses zwischen Nord- und Südpartner behindern gemeinsame Entscheidungsprozesse in allen Phasen eines Projektablaufs.

Für Nabanja-Makumbi sind vor allem Sprachgrenzen bei solchen Missverständnissen zentral. Nichtregierungsorganisationen kommunizieren überwiegend auf Englisch. Dies führt dazu, dass Zielgemeinschaften und Südpartner im Nachteil sind, da sie sich nicht in ihrer Muttersprache ausdrücken können, sondern mit der Sprache einer ehemaligen Kolonialmacht. Besonders schwierig wird es, wenn, wie es Nabanja-Makumbi erlebt hat, durch einen Vertreter einen Projektidee erklärt werden soll, der vielleicht selbst nicht alles versteht. Dann werden bei den sogenannten „auf Augenhöhe Entscheidungsprozessen" in der Wirklichkeit nur die Ideen des Nordpartners fortgeführt.

Projekte von Nichtregierungsorganisationen aus dem Globalen Norden, Deutschland und Sachsen eingeschlossen, müssen also Menschen aus ihren Zielgemeinschaften einbeziehen, zuhören, und verstehen. Natürlich ist es in jeder Partnerschaft genauso: Ohne gute Kommunikation kann es keine Zusammenarbeit geben. Doch in der Entwicklungszusammenarbeit ist Verständigung nicht einfach. Sprachkenntnisse, Wissen um Geschichte, und Kultur der Partner fehlt oft auf beiden Seiten. Um diese Herausforderungen zu überwinden, brauchen Partner persönlichen Kontakt, Verständnis von individuellen und interkulturellen Gegebenheiten und den Ungleichheiten der Weltmachtstruktur. Solche Beziehungen können von postkolonial-bewussten Geldgebern unterstützt werden und Organisationen wie das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen können helfen, informierter zu werden und davon eine bessere Praxis zu entwickeln

Warum ist das alles wichtig? Damit man effektiver eine gerechtere Welt verwirklichen kann. Nur wenn man die Wirkungen der kolonialistischen Weltmachtstrukturen erkennt, und in der Praxis darauf achtet, dass man sie nicht weiterführt, kann man den Lauf dieser Geschichte ändern. Entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen müssen also Bevölkerungen weltweit und empowern, nicht nur mit finanziellen und wissenschaftlichen Mitteln, sondern auch mit der Macht, ihre eigene Zukunft zu entscheiden und zu kontrollieren.


 

Bibliografie:

Interviews mit Elisabeth Nabanja-Makumbi, Jana Sehmisch, Lynn Hövelmann u. Marie-Luise Lehmann, Jürgen Kunze, Simone Schwarz, Gerardo Palacios Borjas

Mawdsley, Emma, Townsend, Janet G., Porter, Gina "Trust, Accountability, and Face-to-Face Interaction in North South NGO Relations. Development in Practice Vol 15 No1, Feb 2005, pp.77-82

Milch ist in jedem Haushalt zu finden, ob als Butter, Joghurt oder in Schokolade. Ihre Werbung weckt gern Klischee­bilder: Weidende Kühe auf grünen Wiesen; Landleben, Dorfleben, Idylle. Der Besuch eines konventionellen Milchviehhofs ist da meist ernüchternd. Kühe auf die Weide zu treiben, rechnet sich bei den heute oft drei- bis vierstelligen Herden größerer Betriebe nicht. In nur drei Jahren müssen die Tiere die Kosten ihrer zweijährigen Aufzucht durch möglichst hohe Milchmengen einfahren. Das ist ihre „Existenzberechtigung“, denn zwei Drittel des dafür nötigen teuren Kraftfutters enthalten Mais und Soja, oft aus Südamerika importiert. Dieser Leistungsdruck zehrt die Tiere körperlich schnell aus, und im Alter von vier bis fünf Jahren landen sie in der Regel als unrentabel beim Schlachter.1 Aufgrund anhaltenden Preisverfalls für Rohmilch haben seit 2015 bundesweit über 4.000 Milchhöfe aufgegeben. Es gab Prämien für Betriebe, die Kühe abgeschafft und weniger Milch zur Molkerei lieferten. Auch deshalb stiegen 2017 die Milchpreise wieder leicht auf ein Niveau, auf dem zumindest größere Milchhöfe existieren können.

Übrig bleiben statt Bauernhöfen immer mehr Agrarfirmen, die die ertragreichsten Kühe aufgegebener Betriebe ankaufen. Von oft fernen Firmensitzen aus bewirtschaften solche Unternehmen immer größere Flächen. Die Verantwortung für Boden, Vieh und Landschaft liegt damit immer häufiger in Büros weit weg vom Produktionsort. So werden ein Fünftel der Agrarflächen in Nordsachsen und um Bautzen bereits von überregionalen Unternehmen kontrolliert.2 „Das Wort ‚Dorf‘ müssen wir neu erfinden“, so ein Rentner aus der Oberlausitz, „denn mit dem Landleben aus Magazinen, mit Bauernhof usw. hat das nichts mehr zu tun.“ Arbeiteten viele Landbewohner früher in LPGs, seien einige wenige von ihnen heute Lohnarbeiter einer Agrar­industrie, deren Arbeitsweise von Weltmarkt-Trends bestimmt wird. Das haben auch sächsische Landbewohner zunehmend gemeinsam mit Bauernfamilien in ärmeren Ländern des globalen Südens, wo die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land lebt. Ihre kleinbäuerliche Art zu wirtschaften gerät hier wie dort unter den Druck der Prioritäten global operierender Nahrungsmittelkonzerne.

Adama Diallo, Milchbauer und Verbandsleiter der Kleinmolkereien in seiner Heimat Burkina Faso, sitzt nachdenklich in einem der technisch modernsten Milchviehbetriebe Ost­deutschlands. Dessen Ausrichtung auf maximale Effizienz für knapp 3.000 Milchkühe, Kälber und Rinder kann im Vergleich zu Westafrika beeindrucken, gibt Diallo zu. Doch: „Was ist, wenn die Chinesen, dank viel größerer Betriebe, demnächst Europa mit Billigmilch überschwemmen?“

Abwegig ist diese Sorge nicht, und dabei geht es derzeit nicht um Frischmilch. Die hat nur einen geringen Anteil am Umsatz mit Milchprodukten.3 Längst sind europäische Milchkonzerne Großaktionäre gigantischer Molkereien in Fernost, sichern sich Wachstums­märkte von Südamerika bis China und erweitern ihre weltweiten Handelsbeziehungen. Bis 2022 wird Chinas Bedarf an Milchprodukten voraussichtlich um 37 Prozent wachsen, schneller als die Kapazitäten einheimischer Milchviehhöfe.4 Das führt zu absehbar lukrativen Absatzchancen für Milch-Überschüsse auch aus Europa. Ein neuer Joghurt-Trend oder gestiegene Butterimporte in China können sich darauf auswirken, wie eine Molkerei in Sachsen ihre Milch verarbeitet, wie hier Kühe ernährt oder Milchaktien gehandelt werden. An der europaweit führenden Leipziger Energiebörse EEX lassen sich solche Entwicklungen tagesaktuell verfolgen. Weltmarkt-Trends entscheiden mit, ob Schiffsladungen an EU-Magermilchpulver nach Brasilien oder Nigeria gehen. Immer mehr bestimmen international operierende Supermarktketten und Lebensmittelkonzerne, woher unsere Nahrungsmittel kommen. Es ist schwer, einen Wocheneinkauf zu tätigen, wenn man genauer wissen will, woher die Produkte kommen.

Auch Molkereien sind nur noch Bausteine in einem komplizierten internationalen Handelssystem, das den Tagespreis für Rohmilch mitbestimmt. Adama Diallo registrierte bei seinen Besuchen auf Milchhöfen vom Allgäu bis Thüringen im Grundsatz dieselben Marktmechanismen wie in Westafrika, die Druck auf die Milchbauern ausüben. Auch in Burkina Faso, berichtete er, kauften europäische Konzerne Molkereien auf oder bauten neue, deren Auslastung mehr Milch erfordert als die Viehzüchter des Umlands liefern können. Afrikas Milchbauern erhielten allerdings keine staatlichen Fördermittel.

Direktzahlungen im Bereich Landwirtschaft sind der größte Budgetposten im EU-Haushalt. Davon profitieren große Molkereien und Agrarfirmen, weniger bäuerliche Familienbetriebe. Sechs Großmolkereien gehörten 2016 zu den zehn Spitzenempfängern von EU-Mitteln. Eine davon ist das Sachsenmilch-Werk in Leppersdorf, direkt an der Autobahn A4. Laut Standortgemeinde wurde es zur größten Milchfabrik Europas ausgebaut, seinen Energiehunger stillt ein eigenes Kraftwerk. Auch hier ist Globalisierung wirksam: Die Flasche Sachsenmilch ist laut Etikett „in Bayern mit Milch aus Deutschland und Österreich“ hergestellt, denn die GmbH gehört der früher bayerischen Unternehmensgruppe Theo Müller. Die Marke ist sächsisch, die Rohmilch für den Inhalt aber könnte aus Tirol oder Ostfriesland sein. Auch „Thüringer Land“ Milchprodukte kommen aus Bayern. Lastwagen, die Milch umweltbelastend quer durch Deutschland fahren, sind die Norm, nicht die Ausnahme.

Die Globalisierung unserer Ernährung verändert auch die deutsche Landwirtschaft, deren Umsatz von der Milchwirtschaft dominiert wird. In diesem Sektor ist Deutschland Europameister; jeder zweite Liter Milch deutscher Kühe wird exportiert, meistens in EU-Länder in Form von Milch- und Molkepulver. Das liegt auch daran, dass wir so viel Butter, Käse, Sahne usw. gar nicht verbrauchen können wie unsere Molkereien herstellen. Diese haben trotz der jahrelangen Mengenbegrenzung durch die 2015 abgeschaffte EU-Milchquote längst ihre Produktionskapazitäten ausgebaut, weil sie nur so ihre Wachstumsziele erreichen. Was passiert dann mit den Überschüssen an Milch? Ein Teil wird, auch mit Steuermitteln, in Pulverform eingelagert.5 Trotz des hohen Energieverbrauchs für die Herstellung von Milchpulver rechnet sich der Aufwand für die Industrie. Milch- und Molkepulver lassen sich ohne Kühlkette einfach transportieren und lagern. Kann in Westafrika oder China eine neue Großmolkerei mengenmäßig mehr Milchprodukte herstellen als einheimische Milchhöfe ihr Rohmilch liefern, hilft Milchpulver aus dem Welthandel, die Bedarfslücke zu schließen.6

Da die Nachfrage nach Rohmilch für den Markt in Europa und Nordamerika in absehbarer Zeit nicht steigen wird, orientiert sich die Lebens­mittel­industrie dorthin, wo eine wachsende Zahl von Menschen allmählich immer mehr solcher Erzeugnisse konsumieren, vor allem in Asien und Afrika. Das liegt nur zum Teil am leicht steigenden Wohlstand in einigen Armutsgebieten. In vielen sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern sind Joghurt und Milch ein Modetrend und heute für einen wachsenden Teil der Menschen erschwinglicher als vor 10 Jahren. Das liegt auch an Preisentwicklungen: Importiertes Milchpulver internationaler Konzerne wird – umgerechnet auf den Liter angerührte Milch – deutlich billiger angeboten als einheimische Frischmilch. Das Magermilchpulver wird, um wenigstens im Fettgehalt gegenüber der Frischmilch mitzuhalten, dafür immer häufiger mit Pflanzenfett gestreckt. Werbekampagnen etwa im Senegal preisen Milchprodukte für Kinderwachstum an, für Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Wo Kinder mit Schulmilch versorgt werden, steigt erfahrungsgemäß auch der Milchkonsum ihrer Familien.

Steigende Nachfrage bietet also – theoretisch – Marktchancen für erfahrene lokale Viehzuchtfamilien – eine Stärke armer westafrikanischer Länder. Trotz widriger Bedingungen gäbe es Anreize, mehr Milch an Molkereien zu liefern und die Kühe diesem Bedarf entsprechend zu halten. Ihre Regierungen könnten durch temporäre Schutzzölle auf Milch- und Molkepulver der lokalen Milchwirtschaft Zeit geben, ihre Produktivität auszubauen. Der langfristige Blick auf landwirtschaftliche Erträge im Vergleich zum Bevölkerungswachstum beweist, weches Potential es hierfür gibt. Trotz systematischer Vernachlässigung durch Regierungen steigerte die Landwirtschaft in vielen Teilen Subsahara-Afrikas ihre Nahrungsproduktion seit Jahrzehnten schneller als die Einwohnerzahl wuchs. 7

In Westafrika sind Millionen Familien traditionell Viehzüchter, die mit häufigeren Dürren und Verknappung von Weideland zu kämpfen haben. Ein wachsender Milchmarkt könnte neue Chancen auf Einkommen eröffnen. Auch in Adama Diallos Heimat haben Frischmilch und Joghurt das Zeug, zur Armutsbekämpfung und gegen Mangelernährung wirksam beizutragen. Diallos Verband vertritt viele Kleinst­molkereien, die auf dem Land, ohne Anschluss ans Stromnetz und mit einfachsten Mitteln gekühlte Milch und Joghurt anbieten. Mit Hilfe von Solarstrom und Gaskühlboxen, und fortgebildet von einheimischen Fachleuten, sichert der Verkauf in den Dörfern vor allem Frauen ein Einkommen. Traditionell gehören die Herden beim Stamm der Peulh den Männern, die Milch aber den Frauen. Über 40 solcher Kleinstmolkereien betreut eine lokale Organisation mit Unterstützung des deutschen Hilfswerks MISEREOR. Im Verbund mit anderen Maßnahmen, etwa zur Tiergesundheit, tragen die Molkereien zu gesunder Ernährung und besserer Schulbildung bei und helfen indirekt, jungen Leuten Alternativen zur Abwanderung in die Großstädte oder ins Ausland zu bieten. In Burkina Faso ist die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahre alt, und für die wenigsten Jugendlichen gibt es Arbeitsplätze.

Doch der weltweite Handel mit Milchpulver macht auch vor Westafrika nicht Halt und ruiniert die Chancen der lokalen bäuerlichen Milchwirtschaft. Wenn die Milch ihrer eigenen Kühe schon heute mehr Menschen versorgen kann, fragen sich die Menschen, warum lässt die Regierung tonnen­weise EU-Magermilchpulver fast zollfrei ins Land? (S. 17). Abgefüllt in Dosen oder handliche Portionstüten, kostet der Liter angerührte Pulvermilch aus Importen umgerechnet nur die Hälfte des Preises lokaler Frischmilch. Damit können einheimische Bauern nicht konkurrieren.

Im Schatten von 15 Jahren zäher Verhandlungen über neue EU-Afrika Wirtschaftsabkommen (siehe S. 21) schufen sich transnationale Lebensmittelkonzerne überall die Voraussetzungen für neue Absatzmärkte. Die erklärten EU-Verhandlungsziele der Armutsbekämpfung und Stärkung lokaler Wett­bewerbs­fähigkeit gegenüber der Konkurrenz aus dem Weltmarkt blieben dabei auf der Strecke (S.22 ). Lieferketten selbst gekühlter Milchprodukte aus der EU reichen direkt bis in den Senegal und seine Nachbarländer. Auch so werden die Verflechtungen einer globalen Industrie greifbar, auf Kosten von Landwirten hier wie dort.

1 Zum Vergleich: Milchkühe auf den 23 sächsischen Demeter-Biohöfen dürfen auch über 15 Jahre alt werden und liefern etwa fünfmal so lange Milch wie Hochleistungskühe in Großbetrieben.

2 Stefan Sauer, „Landwirtschaft in Deutschland Bauernhöfe sterben, Agrarkonzerne wachsen“, Berliner Zeitung, 26.5.2017

3Laut Deutschem Milchindustrie-Verband wurden 2016 von der an deutsche Molkereien gelieferten Rohmilch nur gut 15 % zu sog. Konsummilch verarbeitet. Das meiste entfiel auf Käse, Butter, Joghurt, Sahne, Magermilchpulver, Milchmisch- und andere Produkte.
Von ersten EU-Frischmilchexporten nach China berichtete die BBC am 31.10.2017.

4 Bloomberg News, “China Dairy Giants Shake off Scandal To Become Blue Chips,” 16.10.2017.

5 Im August 2017 hatte die EU die seit 20 Jahren größte Menge Magermilchpulver eingelagert: 358.000 Tonnen. Deutsche Verkehrs-Zeitung, „Der Pulverberg“, 4.8.2017.

6Laut Medienberichten sind von Januar bis August 2017 die Exporte von EU-Magermilchpulver um 43 Prozent gestiegen. Josef Koch, „Milchpreise haben noch Luft nach oben,“ agrarheute.com, 18.10.2017.

7Einschränkend sei erwähnt, dass schwache Infrastrukturen die regionale Versorgungslage dann leider oft erheblich erschweren.

In Europa ist der Protest gegen Freihandelsabkommen in den vergangenen zwei Jahren sichtbar gewachsen. Regierungspolitiker*innen sprechen dagegen immer noch von Vorteilen und betonen, wie wichtig es ist, die Regeln möglichst selbst zu bestimmen. Welche Wirkungen aber hat der Freihandel für Afrika? Gerade diesem Kontinent zwingt die EU sogenannte Wirtschafts–Partnerschafts–Abkommen (WPAs bzw. EPAs für Economic Partnership Agreements) auf. So nötigt sie afrikanische Staaten, ihre Märkte für Importe zu öffnen und Konzernen Zugang zu ihren Rohstoffen zu gewähren.

Bestandsaufnahme

Im November 2017 wollte die EU-Kommission die fünf Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den fünf afrikanischen EPA-Regionen längst schon in der Implementierungsphase haben. Stattdessen gibt es jetzt einen Flickenteppich unterschiedlicher Vereinbarungen. Trotz langwieriger Verhandlungen seit mehr als 15 Jahren und trotz aller Bemühungen der EU-Kommission, das was man als EPA-Krise bezeichnen muss, zu regeln und gelegentlich auch klein zu reden, steht die ganze Herausforderung vor uns: eine Region, die Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft (SADC), hat bis jetzt ein regionales Abkommen ratifiziert, welches seit Oktober 2016 vorläufig in Kraft getreten ist. Angola zog sich aus den Verhandlungen zurück, obwohl es der SADC angehört, weil es mit den Ergebnissen nicht zufrieden ist. Auch andere Länder wie Botswana und Namibia sind alles andere als begeistert. Überall herrscht das Gefühl, die Regierungen hätten nur aufgrund der Drohungen der EU-Kommission unterzeichnet. Überzeugt vom Mehrwert der WPAs für ihre Länder sind sie nicht. Im Gegenteil: die Kommission hat sich auf ihre Vorschläge, die das WPA zu einem Win-Win-Abkommen hätte gestalten können, keineswegs eingelassen.

In allen anderen Regionen sieht die Situation viel unübersichtlicher aus:

Nur für Fünf Länder Ost- und Südafrikas gilt seit 2009 ein Interimsabkommen. Weitere nicht weniger wichtige Länder dieser Region (Sambia, Malawi, Djibuti, Eritrea, Äthiopien, Somalia, Nordsudan) gehören nicht dazu. Sie handeln im Rahmen der „Everything but arms“-Initiative (EBA). (1) Seit langer Zeit finden in dieser Region keine Verhandlungen mehr statt.

In Ostafrika sind zwei Mitgliedsländer (Kenia und Ruanda) unter dem WPA-Regime, obwohl die anderen Länder der Region, Uganda, Tansania und Burundi, noch nicht unterzeichnet haben. Gerade Burundi und Südsudan haben sowohl intern als auch in ihren Beziehungen mit der EU Probleme, die eine schnelle regionale Lösung im Blick auf die EPAs unwahrscheinlicher erscheinen lassen. Von Tansania gibt es Einwände in Bezug auf die Verluste der Staatseinnahmen, den Schutz der jungen Industrie und die Auswirkungen des BREXIT. Solange die EU nicht bereit ist, neu zu verhandeln, ist keine regionale Lösung in Sicht. Zwischen Tansania, Kenia und Ruanda haben sich aufgrund der EPA-Verhandlungen die Spannungen verschärft.

In Zentralafrika hat Kamerun 2014 ein Interimsabkommen ratifiziert, das mittlerweile auch in Kraft getreten ist. Äquatorial-Guinea, Gabun und Kongo-Brazzaville sind unter Generalised System of Preferences – GSP (2), Sao Tomé, der Tschad, Zentralafrika und Kongo-Kinshasa unter „Alles außer Waffen-EBA“. Alle Versuche der Kommission und Kameruns, diese Länder der Region zur Liberalisierung nach dem Vorbild Kameruns zu zwingen, sind gescheitert. Auch hier haben die EPAs die Spannungen zwischen Kamerun und den anderen verschärft.

Westafrika hat es mit vier unterschiedlichen Marktzugängen zu tun: das GSP gilt für die Kapverden und Nigeria, „Alles außer Waffen“-EBA für die 13 am schwächsten entwickelten Länder (Least Developed Countries - LDCs) der Region. Mit Ghana und der Elfenbeinküste bestehen Interimsabkommen. Dass auch hier die Spannungen zwischen Nigeria einerseits und Ghana und der Elfenbeinküste auf der anderen Seite deutlich spürbarer geworden sind, versteht sich von allein.

Cotonou-Abkommen: Selbstverpflichtungen im Blick auf die WPA

Um die Tragweite der gegenwärtigen Krise der die EPAs in vollem Umfang wahrnehmen und zukunftsfähige Auswege aus der Krise entwerfen zu können, sei an einige der Vereinbarungen erinnert, welche sich die Vertragsparteien des Cotonou-Abkommens (3) vorgenommen hatten:

Zu den Zielen der WPAs

Artikel 34:

„Ziel der wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit ist es, die harmonische und schrittweise Integration der AKP-Staaten (4) in die Weltwirtschaft unter gebührender Berücksichtigung ihrer politischen Entscheidungen und Entwicklungsprioritäten zu fördern und auf diese Weise ihre nachhaltige Entwicklung zu begünstigen und einen Beitrag zur Beseitigung der Armut in den AKP-Staaten zu leisten.“

Um unterschiedliche Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen heißt es in Artikel 35:

„Bei der wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit wird den unterschiedlichen Bedürfnissen und dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der AKP-Staaten Rechnung getragen.“

Vor dem Abschluss der Verhandlungen sollen Voraussetzungen erfüllt werden:

Artikel 37, 3:

„Der Vorbereitungszeitraum wird ferner genutzt für den Ausbau der Kapazitäten im öffentlichen und im privaten Sektor der AKP-Staaten, einschließlich Maßnahmen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, für die Stärkung der regionalen Organisationen und für die Unterstützung der Initiativen zur Integration des Regionalhandels.“

Zur Regionalintegration und zur Logik der Verhandlungen

Artikel 37,5:

„Die Verhandlungen über die WPAs werden unter Berücksichtigung des Prozesses der regionalen Integration der AKP–Staaten mit denjenigen AKP–Staaten geführt, die sich dazu in der Lage sehen, auf der von ihnen für geeignet erachteten Ebene und nach den von der AKP–Gruppe vereinbarten Verfahren.“

Es fällt auf, dass im Laufe der Verhandlungen die eigentlichen Ziele (Armutsreduzierung und Regionalintegration) aus den Augen verloren gingen. Die Voraussetzungen nach Artikel 37,3 wurden nicht erfüllt. Die angekündigte Berücksichtigung der Unterschiede fand nicht statt. Die Marktöffnung für die LDCs wurde erzwungen. Es bestand keine Pflicht, die WPAs in ihrem jetzigen Umfang zu verhandeln. Die Verfahren und das Tempo der Verhandlungen diktierte allein die EU. Diese Vertragsverletzungen führen zu den zu erwartenden negativen Auswirkungen der einzelnen Abkommen. Das belegen viele Studien in den letzten Jahren im Blick auf die Industrialisierung, die Landwirtschaft, die Staatseinahmen und den Aufbau strategischer Partnerschaften mit anderen Regionen außerhalb der EU. Sie verlangen eine grundlegende Kurskorrektur. Ein „weiter so“ ist keine Lösung.

Wie weiter mit den WPAs?

Die Schwedische Entwicklungsagentur SIDA (Swedisch International Development Cooperation Agency) hatte bereits 2005 in einer Studie gewarnt, dass die EU in Afrika durch die WPA-Verhandlungen das Gegenteil ihrer erklärten Ziele bewirken könnte. Genau diese Befürchtung ist eingetreten.

Im Blick auf das angerichtete Chaos halten wir es für notwendig, die vom Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) formulierten Empfehlungen vor Augen zu führen und daraus Konsequenzen für den Ausweg aus den EPA–Krisen zu ziehen. In seinem Positionspapier zur deutschen G20-Präsidentschaft bezieht sich der RNE explizit auf den vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) eingebrachten Vorschlag für einen „Marshall-Plan mit Afrika.“ Letzterer verlangt „eine Entwicklung vom `Freihandel zum Fairhandel´ und neue Regeln der Zusammenarbeit. Er fordert einen `Stopp von schädlichen Exporten nach Afrika´; den gezielten Aufbau von Wertschöpfung vor Ort; die Einhaltung von internationalen Umwelt- und Sozialstandards; die Austrocknung internationaler Steueroasen; den Stopp von illegalen Finanzströmen aus Afrika. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass die „EU (…) mit dem Post Cotonou Prozess die einmalige Chance (hat), ihre Afrikapolitik ab 2020 institutionell und vertraglich neu auszurichten. Er bietet auch das Potential, die handelsrechtlichen Beziehungen zu Afrika ambitioniert weiterzuentwickeln"1.

Anders als das BMZ selbst zieht der RNE Konsequenzen aus der Forderung der Entwicklung vom Freihandel zum Fairhandel: „Diesen Ansatz der ambitionierten Weiterentwicklung der handelsrechtlichen Beziehungen zu Afrika halten wir für richtig. Ausgehend hiervon sollte auch eine neue Position zu den WPAs der EU mit afrikanischen Ländern bezogen werden. Neben allen berechtigten Kritikpunkten an diesen Abkommen muss festgestellt werden, dass trotz langwieriger Verhandlungen bisher in fast allen afrikanischen Regionen keine abschließenden Ratifikationen der EPAs erfolgt sind. Das Auslaufen des Cotonou-Abkommens im Jahr 2020 und die gegenwärtig anlaufenden Diskussionen um das Verhandlungsmandat der Europäischen Kommission für ein Nachfolgeabkommen bieten die Gelegenheit zur Neujustierung der Handelsbeziehungen, aufbauend auf den Werten der Agenda 2030. Auf der Grundlage eines neuen besseren Rahmenabkommens könnten die Verhandlungen dann neu starten – auf Augenhöhe mit den afrikanischen Partnern.“

Des Weiteren empfehlt der RNE eine Unterstützung der CFTA: „Die G20-Staaten sollten der Afrikanischen Union zusichern, sie bei der Entwicklung der Continental Free Trade Area (CFTA) zu unterstützen.“

Darüber hinaus plädiert der RNE für eine Verbindung der EBA-Initiative mit dem AGOA (African Growth and Opportunity Act) der USA, um den Marktzugang afrikanischer Staaten in allen G20-Staaten zu verbessern: „Der AGOA-Vertrag, der bis 2025 verlängert wurde, umfasst auch andere afrikanische Länder [als die EBA-Initiative (Anm.d.Red)] und ermöglicht ihnen für bestimmte Produkte quoten- und zollfreie Importe in die USA.“

„Einfache und großzügige Ursprungsregeln sind notwendig, damit afrikanische Unternehmen überhaupt den bevorzugten Marktzugang nutzen können. Afrikanische Unternehmen brauchen Unterstützung beim Aufbau von Handelskapazitäten.“

„Die Regierungen der G20 könnten ihre allgemeinen Präferenzsysteme um zusätzliche Präferenzen für nachhaltige Produkte erweitern. So könnte ein zusätzlicher Anreiz geschaffen werden, Produkte für den Export sozial und ökologisch nachhaltig herzustellen. Hier liegt zudem ein weiteres Handlungsfeld für die Welthandelsorganisation. Eine Unterscheidung in Produkte und Produktionsprozesse erscheint unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten problematisch. Mindestens sollten die G20 für alle lower middle income countries[Niedrigeinkommensländer (Anm.d. Red.)]den gleichen Marktzugang ermöglichen, wie ihn die EU für die least developed countries beschlossen hat. Dies ist eine Forderung der Beratungen der Welthandelsorganisation, die beschlossen, aber bisher nicht umgesetzt worden ist.“

Aus diesen Empfehlungen für die G20-Länder ergeben sich folgende Konsequenzen für die Zukunft der Handelsbeziehungen zwischen der EU und Afrika:

Die Interimsabkommen mit Ghana, der Elfenbeinküste und Kamerun konterkariert alle Bemühungen um Regionalintegration. Sie müssen ausgesetzt werden.

Allen middle income countries Afrikas einschließlich des Östlichen und Südlichen Afrikas sollte der gleiche Marktzugang gewährt werden , wie ihn die EU für die least developed countries beschlossen hat.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Post-Cotonou-Verhandlungen für ein ambitioniertes Rahmenabkommen zu nutzen, auf dessen Grundlage die Verhandlungen im Jahr 2020 neu starten könnten. Damit diese auf gleicher Augenhöhe mit den afrikanischen Partnern stattfinden können, sind die Voraussetzungen nach Artikel 37,3 des Cotonou-Abkommens zu erfüllen.

Ein nach diesem Zeitplan und dieser Logik umgesetztes Rahmenabkommen würde nicht nur die EU-Afrika-Handelsbeziehungen ein Stück gerechter gestalten, sondern auch die EU-Afrika-Beziehungen im Allgemeinen und die der gegeneinander ausgespielten Beziehungen afrikanischer Länder und Regionen untereinander heilen, welche durch die WPAs einer Bewährungsprobe ausgesetzt sind.

Zum Autor:

Im Mai diesen Jahres sprach der Verfasser auf Einladung der Arbeitsstelle Eine Welt in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen und der Attac–Regionalgruppe Dresden über die EU–Freihandelspolitik und darüber, wie sich afrikanische Gesellschaften dagegen wehren. Dr. Boniface Mabanza wurde in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Er studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute koordiniert er die Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) in Heidelberg.

Er stellte uns den hier leicht gekürzten Überblick und Einblick in die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Afrika zur Verfügung

Anmerkungen der Redaktion:

(1) Von den 49 Ländern Subsahara-Afrikas haben unter der „Alles außer Waffen“ - Initiative (Everything But Arms – EBA) die am schwächsten entwickelten Länder (Least Developed Countries - LDC) einen quoten- und zollfreien Zugang zum EU-Markt, während dies umgekehrt für die Importe aus der EU nicht gilt.

(2) Der Marktzugang dieser Länder in die EU wird nach dem Allgemeinen Präferenzsystem (Generalised System of Preferences – GSP) besonders geregelt.

(3) Das Cotonou-Abkommen trat als völkerrechtlicher Vertrag zwischen der EU und den AKP-Staaten (siehe 4) im Bereich Handels- und Entwicklungspolitik 2002 in Kraft. Es läuft 2020 aus.

(4) Zur AKP–Gruppe gehören Länder in Afrika, der Karibik und dem Pazifik, die zumeist Kolonien Frankreichs und Großbritaniens waren.

1 Rat für Nachhaltige Entwicklung, Für eine umfassende G20- Für eine umfassende G20-Partnerschaft mit Afrika Partnerschaft mit Afrika Partnerschaft mit Afrika zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen Vereinten Nationen. Empfehlungen des Rates für Nachhaltige Entwicklung an die Bundesregierung, März 2017 , S. 6. http://nachhaltigkeitsrat.de/fileadmin/user_upload/dokumente/empfehlungen/2017/20170328_RNE_Empfehlung_G20_und_Partnerschaft_mit_Afrika.pdf

Eines der erklärten Ziele der deutschen G20-Präsidentschaft war die Einleitung einer „neuen Partnerschaft mit Afrika“. Deren zentrale Säule und das Prestigeprojekt der Bundesregierung ist die „Compact with Africa“-Initiative, die vom Bundesfinanzministerium koordiniert wird. Die Initiative zielt auf die massive Ausweitung von privaten Investitionen nach Afrika, um damit vor allem Infrastrukturprojekte zu finanzieren. In Afrika sollen dadurch Jobs und Wohlstand entstehen und Fluchtursachen bekämpft werden. Doch die Initiative kommt mit Risiken.

Was genau ist der „Compact with Africa“?

Bei den „Compacts“ handelt es sich um „Investitionspartnerschaften“ zwischen als reformwillig geltenden afrikanischen Ländern, den internationalen Finanzinstitutionen und G20-Partnerländern. Die afrikanischen Staaten verpflichten sich zu Reformen, die sie für (ausländische) Investoren attraktiver machen. Die internationalen Finanzinstitutionen und bilateralen Partner unterstützen sie dabei durch technische und finanzielle Hilfe. Durch die politische Unterstützung der G20 sollen private Investoren mehr Vertrauen in die ausgewählten Länder gewinnen. Jedes Land handelt ein individuelles Maßnahmenpaket mit den beteiligten Partnern aus. Alle afrikanischen Länder wurden zur Teilnahme an der Initiative eingeladen. Der Einladung bislang gefolgt sind der Senegal, die Elfenbeinküste, Tunesien, Marokko, Ruanda, Ghana und Äthiopien.

Mehr öffentliche Entwicklungshilfemittel gibt es dabei ausdrücklich nicht. Aus dem bestehenden Entwicklungshaushalt wurden lediglich 300 Millionen Euro unter dem Etikett „Marshallplan mit Afrika“ abgezwackt, die den bislang drei „Compact“-Ländern der Bundesregierung – Tunesien, Ghana und die Elfenbeinküste – für Projekte etwa im Bereich der erneuerbaren Energien oder der Finanzmarktentwicklung zur Verfügung stehen.

Die nächsten G20-Präsidentschaften haben bereits signalisiert, dass sie die Initiative weiter aufgreifen wollen, so dass mehr Länder hinzukommen können. 2018 liegt die G20-Präsidentschaft bei Argentinien, das bereits überlegt, die Initiative auch auf nicht-afrikanische Länder auszuweiten.

Probleme mit dem „Compact with Africa“: Wachstum für wen?

Compact with Africa ist der jüngste Ausdruck eines einseitigen Entwicklungsdiskurses, der auf privates Kapital als alleinigen Heilsbringer setzt. Staatliche Entwicklungshilfe habe versagt, heimische Ressourcen reichen nicht, man müsse nun auf private Investoren setzen, die Afrika mit Milliardensummen „helfen“ sollen. Öffentliche Mittel sollen vor allem zur Absicherung der (ausländischen) privaten Investitionen eingesetzt werden.

Dass ausgerechnet jetzt auf die massive Ausweitung privater Investitionen für Afrika gesetzt wird, liegt vor allem an den Auswirkungen der Niedrigzinspolitik seit der globalen Finanzkrise zur Ankurbelung der Konjunktur in den reichen G20-Ländern. Jede*r Sparer*in in Deutschland etwa spürt die Auswirkungen dadurch, dass er oder sie auf sein Erspartes keine Zinsen erhält. Die in reichen Ländern ansässigen Pensionsfonds, Banken und Unternehmen erhalten auf ihre Anlagen ebenfalls so gut wie keine Rendite, müssten aber aufgrund ihrer Zahlungsverpflichtungen etwa im Bereich der Alterssicherung Renditen über dem Nullniveau erwirtschaften. Also sind sie anderswo auf der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten. Im Kern geht es beim „Compact with Africa“ also weniger um Entwicklungshilfe als um ein innenpolitisches Ziel: Afrika soll für private Anleger*innen erschlossen werden. Die Bundesregierung erklärt dies auch in aller Offenheit, wenn sie sagt, dass sie Afrika für westliche Pensionsfonds attraktiv machen will. Denn in Afrika sind noch hohe Renditen zu holen, liegen hier doch einige der gegenwärtig weltweit am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften.

Risiken werden ausgeblendet

Während Schäuble und Co sich viele Gedanken um die Absicherung möglicher Risiken für Investoren machen, blenden sie die Risiken für die afrikanischen Empfängerländer, etwa steigende Schulden, fast vollständig aus.

Dabei sind nach Recherchen von erlassjahr.de aktuell bereits 43 afrikanische Länder von Überschuldung bedroht. In einer derartigen Situation ist die massive Ausweitung von privater Kreditvergabe nur dann zu verantworten, wenn im Falle einer resultierenden Schuldenkrise die Möglichkeit für Schuldenerleichterungen geschaffen wird. Genau dafür sorgt der „Compact with Africa“ aber nicht. Das „African Forum and Network on Debt and Development“ zusammen mit dem „Africa Development Interchange Network“, die eine Konsultation mit zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen aus 40 afrikanischen Ländern organisierten, kritisieren in einer Stellungnahme diese Lücke. Der „Compact“ diskutiere zwar die bessere Überwachung von Schuldenrisiken, doch die Lösung einer eingetretenen Krise würde einfach ausgeklammert. Natürlich ist gegen eine bessere Überwachung von Schuldenrisiken nichts zu sagen, aber nur, weil man eine Gefahr schneller erkennt, heißt das noch nicht, dass man sie auch bewältigen kann.

Dabei müssten die Architekten der „Compact“-Initiative nur in der Geschichte zurückblicken. Der sogenannten „Schuldenkrise der Dritten Welt“ in den 1980er und 1990er Jahren gingen massive Kapitalexporte in den Globalen Süden in Form von Krediten von privaten Banken voraus, die in den 1970er Jahren wegen niedriger Rendite in den reichen Ländern nicht wussten wohin mit ihrem Geld. Als dann globale Zinsen stiegen und Preise für die Exportgüter der Schuldnerländer fielen, wurden viele Schuldnerländer zahlungsunfähig. Weil es keine angemessenen Entschuldungsverfahren gab, dauerte die Lösung der Schuldenkrise rund 20 Jahre, mit dramatischen Konsequenzen für die Menschen in den betroffenen Ländern sowie hohen Kosten für die Steuerzahler*innen in reichen Geberländern, deren Regierungen mit Rettungsgeldern dafür gesorgt hatten, dass die privaten Gläubigerbanken weniger Verluste hinnehmen mussten. Lernen die G20 nicht aus den Erfahrungen der Vergangenheit, riskieren sie, dass sich die Geschichte wiederholt.

Rechtzeitig vorsorgen

Um das zu verhindern, hätten die G20 bei ihrem Gipfel in Deutschland die Gelegenheit nutzen müssen, vorsorglich verbindliche Regeln zur Lösung von Schuldenkrisen zu schaffen. Im März 2017 untermauerten die G20 Finanzminister*innen in ihren Beschlüssen, dass eine Schuldenkrise nur gelöst werden kann, wenn Schuldenerleichterungen von allen Beteiligten mit gutem Glauben, geordnet, zeitig und effektiv verhandelt werden können. Doch die bestehenden Verfahren können das nicht bieten, weshalb die Lösung von Schuldenkrisen oft unnötig lang und mit hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten verschleppt wird. Die Staats- und Regierungschef*innen bei ihrem Gipfel in Hamburg haben es versäumt, den Faden wieder aufzugreifen und die globale Finanzarchitektur an dieser Stelle zu verbessern. Vorherige Versuche an anderer Stelle, ein umfassendes internationales Entschuldungsverfahren zu schaffen, sind meist am Widerstand einiger G20-Länder gescheitert. Damit setzen die G20 die Entwicklungserfolge der vergangenen Jahrzehnte aufs Spiel, obwohl sie angeben, mit dem „Compact with Africa“ für Entwicklung sorgen zu wollen.

Was kann „ich“

Sowohl die Initiative als auch globale Schuldenkrisen werden im nächsten Jahr nicht einfach wieder verschwunden sein. Inwieweit die neue Bundesregierung dafür sorgt, dass sich in der Politik etwas in Richtung faire Entschuldungsverfahren bewegt, werden wir abwarten müssen. Dafür ist der Druck aus der Zivilgesellschaft und die Einforderung von Rechenschaft bei politischen Entscheidungsträger*innen entscheidend. 2018 plant erlassjahr.de daher verschiedene Aktionen und Veranstaltungen, um mit Entscheidungsträger/innen ins Gespräch zu kommen und sie zum Handeln aufzufordern.

Angaben zur Person:

Kristina Rehbein ist politische Referentin bei dem Bündnis erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung e.V. Bei erlassjahr.de ist sie u.a. für die Geschäftsführung, Kampagnen und die Region Afrika zuständig. Kristina Rehbein studierte Kulturwissenschaften und Globale Entwicklung und arbeitet seit 6 Jahren bei erlassjahr.de.

Ein Interview mit Philipp Lemmerich in Leipzig zur Onlineplattform JournAfrica!

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