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Entwicklung – eine saure Sache! (Teil 2) Empfehlung

geschrieben von  Antonia Mertsching Sep 23, 2016

Im Jahr 2015 feierte das ENS seinen 20. Geburtstag. Das war Anlass zur Selbstreflexion und zu folgenden Fragen: Mit welcher Entwicklungslogik arbeiten wir eigentlich? Was haben wir als ENS in 20 Jahren erreicht? Welchen Beitrag haben wir in der Beziehung und Problematik Nord-Süd oder Nord-Ost geleistet? Oder umgekehrt: Was hat das Entwicklungskonzept und seine Logik mit uns als Individuen, als Menschen, als Verein, als Netzwerk, als Zivilgesellschaft gemacht? Welchen Einfluss und welche Wirkung haben sie in den letzten 70 Jahren auf uns ausgeübt? (fairquer # 37, S. 6) Im Frühjahr 2015 waren Miguel Ruiz, Muruchi Poma und Antonia Mertsching auf dem Weg, um diese Fragen anhand von Thesen mit den Netzwerkmitgliedern zu diskutieren.


Fünf Netzwerk- und Diskussionstreffen später bleibt zunächst folgendes Bild festzuhalten: Was der Begriff 'Entwicklung' nüchtern meint (‘entstehen, (sich) entfalten, in einem Prozess voranschreiten’) und wie er in unserem Verständnis verwendet wird, sind zwei paar Schuhe. Und das zweite Paar gibt es auch noch in fünf verschiedenen Varianten. Klar ist, Entwicklung ist ein Begriff, dessen heutiges Verständnis mit einer westlich geprägten Entwicklungsvorstellung und dazugehörigen Maßnahmen gefüllt ist. Wer von Entwicklung spricht, meint den positiv beschriebenen Mythos von Modernisierung und Technisierung, Rechtsstaat und repräsentativer Demokratie, Kapitalismus und Marktwirtschaft.

Wie die Paar Schuhe der Linien 'Entwicklung' der sächsischen entwicklungspolitischen Akteur*innen aussehen, aus welchem Material sie zusammengeschustert worden sind, wie sie durch die Welt laufen, wem sie nicht passen, in welche Stapfen und Fettnäpfchen sie treten und an welcher Stelle sie durchgewetzt sind, das schildert Jürgen Kunze, von der Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft e.V. Leipzig, in seiner Einschätzung der Treffen nach Auswertung der gesammelten Aufzeichnungen seit dem Frühjahr 2015:

Die Meinungsäußerungen der Teilnehmer an den Netzwerktreffen zum Thema „Entwicklung“ und „Entwicklungspolitik“ sind vielgestaltig und in hohem Grade widersprüchlich. Die einschlägigen Aussagen reichen von der Betonung gesamtgesellschaftlicher Bezüge bis zum Gegenteil, das heißt zur Abkehr von globalen Erklärungszusmmenhängen, von der Orientierung auf die Probleme des Südens bis zur Betonung der primären Notwendigkeit eines Systemwandels im Norden in Richtung Postwachstum, von fundamentalkritischen Bewertungen der praktizierten staatlichen Entwicklungspolitik bis zu konformistischen Einstellungen dazu.

Dabei fällt auf, dass kaum eine Meinungsäußerung auf entwicklungstheoretische Ansätze Bezug nimmt. Insofern bleiben die strukturellen Grundlagen, historischen Verläufe und globalen Zusammenhänge der kolonial verursachten und neo- beziehungsweise postkolonial reproduzierten „Unterentwicklung“ des Südens unterbelichtet.

Das mag einerseits an der einschränkenden Fragestellung liegen – es wird in den Eingangsthesen der Organisatoren zugespitzt gefragt, ob die Entwicklungsproblematik als Aspekt der Beurteilung staatlicher Entwicklungspolitik in der Projektarbeit der Vereine eine Rolle spielt oder nicht1. Das begrenzt das Spektrum der Antworten in der Tat auf die Erklärungsachse Entwicklung – Entwicklungspolitik – Staat – Zivilgesellschaft. Dadurch reduzieren sich die vorgetragenen Argumente tendenziell auf das Niveau einer „Gut-Böse-Zuordnung“, auf eine Schuldzuweisung durch Kritik am „westlichen Entwicklungsmodell“, auf Hinterfragung der „westlichen Entwicklungslogik“ und so weiter. Andererseits ist auch einzuräumen, dass das Verständnis von Entwicklung im Sinne eines welthistorischen Prozesses und globalen qualitativen Strukturwandels eine sehr komplexe Sicht auf die Welt-Zusammenhänge in ihrer Veränderung erfordert.

Eine solche Komplexität in der Betrachtungsweise wird nicht immer bevorzugt. Sie ermöglicht es aber, Probleme in ihrer Besonderheit zu erfassen und Argumente zu präzisieren. „Entwicklung“ hat zunächst mit Entwicklungspolitik (als politischem Instrument der Industriestaaten und der Eliten des globalen Südens) wenig zu tun hat, sie findet statt oder findet nicht statt, ob Entwicklungspolitik existiert oder nicht.

Da hier begriffliche Unschärfen an der Tagesordnung sind, sind die Reaktionen der Diskussionsteilnehmenden auch ziemlich diffus.

Dies liegt wahrscheinlich auch nicht so sehr an einem unkritischen Verhältnis zu staatlicher Entwicklungspolitik, sondern eher am Vorherrschen eines wenig bündigen Gesellschafts- und Geschichtsverständnisses. Letzteres trifft natürlich nicht nur auf die Akteur*innen zivilgesellschaftlicher Entwicklungspolitik zu, sondern ist eine allgemeine Erscheinung der Gegenwart und wird verstärkt durch den heillos zerfaserten entwicklungstheoretischen Diskurs, dessen publizistisch vermittelte Bruchstücke wenig zu einem systematisch begründeten Begriff von Entwicklung beitragen. Daraus erwachsen verständliche Überforderungen im Erfassen der Problematik. In Bischofswerda und Zwickau wurde die einschlägige Fragestellung (5.2) überhaupt nicht diskutiert, in Leipzig teilweise als spekulativ abgetan, in Großenhain und Dresden fühlt man sich durch die entsprechende These zum Teil genervt.

Vielfach wird durchaus realistisch auf einzelne Symptome der vermeintlichen Unterentwicklung beziehungsweise auf kritische Momente der Entwicklung Bezug genommen: Ressourcenfluch, Rohstoffausbeutung, Weltmarktauswirkungen, Umweltzerstörung, regionale Fokussierung der Problematik unter Hintenansetzung globaler Zusammenhänge. Dabei vermittelt sich der Eindruck, dass verallgemeinernde Auffassungen von Entwicklung bewusst oder intuitiv vermieden werden und eher einer gegenständlichen Problemsicht und kleinen, überschaubaren Aktionen und Kampagnen in der entwicklungspolitischen Praxis der Vorzug gegeben werden soll. Nicht selten wird auf ethische Kategorien der Entwicklungszusammenarbeit (Partnerschaft, Gleichwertigkeit aller Menschen, Gerechtigkeit) als Gegenpole zu den „Defiziten“ der staatlichen Entwicklungspolitik verwiesen, wo eigentlich eher die Strukturmerkmale des Entwicklungsbegriffs und die Einbeziehung des Themas in die eigene Arbeit gefragt sind. Auch der Wunsch nach Gegenkonzepten zum „westlich geprägten“ Entwicklungsbegriff (Post-Development, Buen Vivir, Wachstumskritik, Alternativwirtschaft und alternative Lebensweisen) wird formuliert.

Dabei stellen sich erhebliche Unterschiede in der individuellen Bewertung des sogenannten westlichen Entwicklungskonzepts und der staatlichen Entwicklungspolitik der Industrieländer heraus. Zwar dominiert hier eine distanzierte bis kritisch-ablehnende Haltung, doch finden sich auch zustimmende Positionen. Eine Aussage fordert die Wertschätzung eigener Entwicklungserrungenschaften wie die der Menschenrechte ein. Das Maß der Kritik wird verschiedenartig artikuliert. Es reicht von der Einnahme einer politisch neutralen Haltung, der Ablehnung, sich als Systemgegner darzustellen, der Zustimmung zum Konzept der „Entwicklungshilfe“, bis hin zu Tendenzen der Kapitalismuskritik, zu Aspekten der antikapitalistischen Emanzipation und Transformation. Dezidierte Gesellschaftskritik kommt bestenfalls in verschleierten Ansätzen vor.

Hinter all diesen unterschiedlichen Positionen verbergen sich neben den unterschiedlichen Graden des Befasstseins oder Vertrautseins mit dem Thema „Entwicklung“ offensichtlich auch beachtliche weltanschauliche Differenzen. Im Umgang mit der Thematik Entwicklung und Entwicklungspolitik stellen sich jedenfalls weit größere Unterschiede zwischen den Vereinen und Akteuren heraus als im Hinblick auf die tendenzielle Einheitlichkeit des Netzwerks in der allgemeinen Motivation, sich in zivilgesellschaftlichen entwicklungspolitischen Aktivitäten zu engagieren. Dieser Sachverhalt ist keineswegs als Manko zu betrachten, sollte aber bei der bewussten Ausgestaltung der Netzwerkarbeit Berücksichtigung finden.

In weltanschaulicher Hinsicht, bezogen auf den Entwicklungsbegriff und das Verständnis von Entwicklungspolitik, lassen sich eine Reihe von Leitmotiven, begriffen als Selbstzuschreibungen beziehungsweise Wertorientierungen, aus der Gesamtheit der Angaben herausfiltern. Das sind Phänomene wie Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Humanität, Gleichheit/Gleichberechtigung/Gleichrangigkeit, Partnerschaftlichkeit, Antirassismus, Alternative Lebensweise.

Mit diesen Werten verbundene Einstellungen sind direkt oder indirekt in allen substantiellen Angaben des Ausgangsmaterials präsent. So glaubhaft entsprechende Selbstbewertungen sind, so kann jedoch anhand des vorliegenden Materials keine Aussage darüber getroffen werden, inwiefern diese moralischen Haltungen und Optionen im Vereinsleben und in der Projektgestaltung ihren realen Niederschlag finden.

Inwiefern das Verfolgen ethischer Werte wie Gerechtigkeit die Kohärenz des Netzwerks stärken können – darauf zielte die aufgeworfene Netzwerkfrage2. Die Reaktionen auf diese Frage sind durchweg positiv und in vieler Hinsicht zugleich problembewusst. Dies ist ein wertvoller Befund, auf dessen Grundlage sich Netzwerkarbeit in vielfältiger Weise gestalten lässt. Die vorgetragenen Argumente knüpfen implizit an die im Befund „Politik“ getroffenen Feststellungen an, indem sowohl das Gemeinsame gesucht und betont als auch der Facettenreichtum des Netzwerks sichtbar gemacht werden soll. Dirigismus soll vermieden, vielfältiger Austausch und solidarisches Verhalten untereinander angestrebt werden. Vorgeschlagen wird, Kompromisse bei Meinungsverschiedenheiten zu finden, Zielhierarchien zu definieren, Minimalstandards in der ethischen und politischen Orientierung und sogenannte No Go’s festzulegen, gemeinsame Kampagnen, gemeinsame Lobbyarbeit, gemeinsame Plattform für Bildungsmaterialien zu realisieren. Es gilt, in entscheidenden Aktivitätsbereichen einen gemeinsamen Nenner zu finden, auch in definitorischer Hinsicht, zum Beispiel im Hinblick auf ein wünschenswertes Menschenbild. Eine kontinuierliche Arbeit unter solchen Leitbildern wird als „großer Schatz“ empfunden.

Wenngleich diese Formulierungen in vieler Hinsicht den Charakter von Zielvorstellungen haben, so werden sie doch nicht als unrealistisch empfunden. Diese bejahende Wertung der Netzwerkarbeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des ENS. Sie versinnbildlicht eine konstruktive Ausstrahlung der Organisation in die Mitgliedschaft hinein und konstituiert einen beachtlich vorwärtsweisenden ethischen Anspruch, der natürlich auch ein Bedürfnis nach weiterer Profilierung konstituiert.

Damit ist der Anschluss gegeben für die Fragen, die ebenfalls in der vorangegangenen fairquer aufgeworfen wurden: Wie gut haben wir uns in unserer Rolle eingerichtet? Kämpfen wir für eine Sache oder lediglich mit bequemen Mitteln? Wo politisieren, wo provozieren wir? Unsere entwicklungspolitische Arbeit sollte hinterfragt werden: Warum machen wir es so? Wo wollen wir hin? In welche Richtung? Was machen wir eigentlich? Wofür?

Auch in den anschließenden Treffen, die seither mit Expert*innen von inner- und außerhalb des Netzwerks stattgefunden haben, sind wir diesen Fragen weiter nachgegangen. Sie können nicht abschließend beantwortet werden und dienten vor allem dazu, sich die großen Fragen im alltäglichen Kleinklein wieder einmal zu vergegenwärtigen. Die Diskussionen darum, welchen Fragen wir uns hinsichtlich 'Entwicklung' stellen sollten (Leipzig), wie wir vom Wissen zum Handeln kommen (Dresden) und wie wir die letzten Bastionen entwicklungspolitischer Arbeit außerhalb der beiden großen Städte (Weltläden) unterstützen können, führen wir weiter.

 

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1THESE: Die staatliche Entwicklungspolitik ist ein außenpolitisches Instrument der Industriestaaten für die so genannten 'armen Länder'. Sie dient oftmals eigenen wirtschafts- oder sicherheitspolitischen Interessen. Im Laufe der modernen Zeit wurde klarer, dass und warum die Industrieländer wichtige Voraussetzungen, die zu ihrer Entwicklung beigetragen haben (Wissenschaft, Technologie, Geld-/Handelspolitik, eurozentristische Entwicklungsauffassung, Bildung, sowie Massenmedien), unter ihren Fittichen behalten: als Hardware und Software zur Erhaltung eines westlich-hegemonialen Herrschaftssystems.

FRAGE: Spielt diese Annahme eine Rolle für oder einen Einfluss auf die Gestaltung eurer Projektarbeit, ganz gleich ob im Inland oder Ausland?

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2THESE: Inzwischen wird Entwicklungspolitik nicht nur durch die staatlichen Instanzen betrieben, sondern auch durch zivilgesellschaftliche Akteure und Institutionen, die andere moralische und ethische Werte haben oder anstreben. Seit 20 Jahren setzt sich das ENS bzw. seine Mitglieder „in verschiedenen Variationen“ für ein unausgesprochenes und unverbindliches, diffuses Ziel, nämlich das „einer gerechten Welt“ ein.

FRAGE: Wie können wir als Netzwerk an einem Strang ziehen?

Letzte Änderung am Donnerstag, 20 Oktober 2016 13:16

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