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Befreiung statt Entwicklung Empfehlung

geschrieben von  Friedrich Brachmann Sep 23, 2016

 

 

Wofür ist der Begriff Entwicklung noch brauchbar? Das Fortschreiten der Krise - vom klammen Wachstum bis zum Brexit, von der Arabellion bis zu den Geflüchteten oder vom Streit über Freihandel bis zur Überlastung des Klimas – all das verringert nicht gerade die Zweifel am Entwicklungsbegriff (vgl. auch fairquer #37, 2015, S. 4 ff).

Seit dem „Washington Consensus“ (1990) steht er für ein Bündel von Maßnahmen (Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, kurz: Neoliberalismus) mit dem die Wirtschaft stabilisiert, das Wachstum gefördert und die damals vorherrschende Krise in Lateinamerika überwunden werden sollte. Funktioniert hat das nicht. Heute erscheinen uns die 1990er Jahre eher als gute alte Zeit, in der die Welt fast noch in Ordnung war. Die Europäer*innen hatten ihre Ruhe, abgesehen vom Balkan. Die Deutschen waren in Erwartung blühender Landschaften zum großen Teil mit sich beschäftigt.

 

Entwicklungspolitische NGO's verstehen Entwicklung ohnehin etwas anders: gerechter, nachhaltiger, fairer eben. Wenn es zu Gesprächen mit Politiker*innen kommt, führt das mitunter zu Kopf schütteln auf beiden Seiten. Oder mensch schlägt sich die Hand an die Stirn. Manchmal liegen Vorstellungen und Interessen Welten auseinander!

 

Aber liegt der „Entwicklung“ nicht ohnehin etwas zutiefst ambivalentes zugrunde? Die Zivilisationsgeschichte der Menschheit war weder ein simpler Prozess stetigen, geradlinigen Fortschritts noch ein alternierender Aufstieg und Niedergang mächtiger Reiche und Kulturen. Nach heutigen Erkenntnissen war sie eine „Mischdynamik aus Chaos und Ordnung auf allen denkbaren räumlichen und zeitlichen Skalen“ (Schellnhuber). Anhand elementarer Kriterien wie Populationsgröße, Lebenserwartung oder Ressourcen lässt sich über die Epochen hinweg eine breite, zittrige und dennoch exponentielle Aufwärtsbewegung erkennen. Dabei fallen zwei gewaltige Steilstufen auf: die neolithische Revolution vor ca. 11 000 bis 6 000 Jahren und die industrielle Revolution von etwa 1750 bis 2000. Beide sind aufs Engste mit den Überthemen Energie und Klima verbunden.

 

Klimaforschung kommt zu klarer Ansage

1998 und 1999 veröffentlichte das amerikanisch-britische Wissenschaftlertrio M. Mann, R. Bradley und M. Hughes (MBH) eine Graphik mit dem Verlauf der hemisphärischen Mitteltemperatur zwischen den Jahren 1000 und 2000. Die Daten stammen aus verschiedenen empirischen Quellen wie Thermometermessungen, Baumringen, Eisbohrkernen, Korallen sowie historischen Berichten. Auch relevante Unsicherheiten gaben die Forscher an (graues Umfeld). Zu sehen ist eindrucksvoll, wie sich die Temperatur neun Jahrhunderte innerhalb einer natürlichen Variabilität bewegt. Um 1900 biegt die Kurve steil nach oben ab, wie das Schlägerblatt eines Eishockeyschlägers. Unter der Bezeichnung hockeystick curve wurde diese Graphik zum Beszugspunkt zahlreicher Klimadebatten. Doch die Lage ist eindeutig: diese Erwärmung hängt nur vom kumulierten Treibhausgasausstoss ab. Das bedeutet, bis Mitte des 21. Jahrhunderts möchte Schluss sein mit der fossilen Betriebsweise der Weltwirtschaft. Andernfalls vertreibt sich die Menschheit aus ihrer planetaren Behausung. Genauer gesagt, sie steuert in ihre 'Selbstverbrennung'. So erklärt es der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber resümierend in seinem Buch mit diesem brutalen Titel. Aus physikalischer, technischer und ökonomischer Sicht eine schwierige, aber (noch) lösbare Aufgabe. Allein den politischen Willen quer über den Planeten zu organisieren und umzusetzen, das ist die eigentliche gigantische Herausforderung! Es geht um Milliarden und Billiarden der fossilen Industrie, um die Macht, die hinter diesem Geld steht, um den Wohlstand, der sich für einen Teil der Menschheit auf diese Weise noch erhalten lässt.

Gründliches Umdenken ist gefragt. Historisch gesehen finden sich dafür bereits weit vor der Moderne tief verankerte Wurzeln.

 

 

Die „Hockeyschläger-Kurve“ über die vergangenen 1000 Jahre belegt die ungewöhnliche Erwärmung ab 1900. Sie wurde in den 3. Sachstandsbericht des Weltklimarates (2001) aufgenommen, kontrovers diskutiert und immer wieder bestätigt.

 

 

Wie die Welt aus den Fugen geriet

Karl Jaspers (1883 – 1969) bezeichnete die Entwicklungen des Alten Orient (von China bis zum Mittelmeer) etwa ab dem 8. Jahrhundert v.u.Z. als Achsenzeit. In ihr entstanden wesentliche bis heute wirksame Philosophien und Weltreligionen. Gleichzeitig ist es der Beginn der frühen Geldwirtschaft, die sich mit den Imperien verbindet. Höhepunkte sind die hellenistischen Reiche und das Imperium Romanum. Hier ist die traditionelle politisch – militärische Herrschaft mit der marktförmigen Geld–Privateigentums–Wirtschaft auf totalitäre Weise verflochten. Im römischen Recht erhielt das Privateigentum (Dominum) absoluten Charakter.

 

In dieser Zeit entstand auch der Großteil der biblischen Schriften. Sie beziehen sich explizit kritisch auf die Mechanismen der Geldwirtschaft und neue Ausbeutungsformen wie Schuldsklaverei. So tritt Mitte des 8. Jahrhunderts v.u.Z. der Prophet Amos in Israel auf. Sein Thema ist die Gefährdung der Kleinbauern und Bäuerinnen, wie sie betrogen, versklavt und missbraucht werden. Er kritisiert die Reichen, die von anderer Leute Arbeit leben und im Luxus prassen. Ihnen droht er Unheil und Untergang an. Am Ende des 7. Jahrhunderts fasst Jeremia die zentrale Botschaft der Propheten zusammen: Gott ist identisch mit Recht und Gerechtigkeit. Im Gesetzbuch des antiken Israel, der Tora, sind periodische Rechtsansprüche der Sklaven auf ihre Freilassung verankert (Sabbat- und Jobeljahr). Damit ist ein grundlegendes Verständnis von Theologie auf der Basis der Bibel angesprochen: Gott erkennen heißt, die Verarmten und Unterdrückten zu befreien. „Befreiungstheologie ist nicht eine Theologie neben anderen. Vielmehr sind Theologien, die nicht praktisch befreiend wirken, keine Theologien im Sinn der Bibel – eine Einsicht, die in unserem bürgerlichen Europa erst zu lernen ist.“ (Duchrow) Das wäre ein Meilenschritt für die Überwindung der gegenwärtigen globalen Krise.

 

Für die heute herrschende Zivilisation gewannen hingegen anthropologische, kulturelle und religiöse Vorstellungen an Bedeutung, die sich im Rahmen der Neuzeit entwickelt haben.

René Descartes (1596 – 1650) definiert den Menschen als „Herrn und Besitzer der Natur“, die vom männlichen Subjekt zu erobern und zu beherrschen ist. Frauen sind in diesem Weltbild wesentlich von Natur und Emotionen bestimmt. Nichteuropäische Völker werden nach europäischem Rassismus als „Naturvölker“ verstanden. Gott als eine Art Uhrmacher habe die Welt als Maschine geschaffen, die weiterläuft und vom Menschen kalkulierend beherrscht werden kann.

Thomas Hobbes (1588 – 1679) erklärt in seinem Werk Leviathan den Menschen zu einem isolierten Individuum, das in der entstehenden kapitalistischen Marktgesellschaft nach mehr Macht, Reichtum und Ansehen strebt. Durch Konkurrenz geraten die Individuen aneinander und führen einen „Krieg aller gegen alle“. Der Staat müsse stark genug sein, um die gegenseitige Zerstörung der Individuen zu verhindern. Er habe die Aufgabe, diese Gesellschaft zu bändigen indem er die Durchsetzung von Eigentums- und Vertragsrechten erzwingt.

John Locke (1632 – 1704) sieht den Menschen (mit dem biblischen Bezug: „Seid fruchtbar und mehret euch.“) ausschließlich als Eigentümer, der das Recht habe, sich die Erde durch Arbeit und Geld anzueignen – weltweit und unbegrenzt. Dabei dürfe das Kapital die unterstützende und schützende Macht des Staates nutzen. Wer sich dagegen auflehnt, könne erschlagen oder zum Sklaven gemacht werden. So legitimiert er die Aneignung nordamerikanischen Landes durch englische Siedler und die Ermordung der sich wehrenden indigenen Völker. Locke bezog selbst Vermögen durch Sklavenhandel.

Adam Smith (1723 – 1790) schließlich lehrt, aus dem egoistischen Streben nach individuellem Reichtum werde durch „die unsichtbare Hand des Marktes“ der allgemeine Wohlstand der Nationen. Unsichtbar bleibt bei dieser These, dass stärkere Marktpartner Vorteile für sich auf Kosten der schwächeren Partner ziehen.

 

Diese Deutungsmuster der Moderne bewerten Gier und Egoismus positiv. Sie tragen ein Verständnis Gottes in sich, welches dem biblischen Gott auf ganzer Linie widerspricht. „Alles Leben wird der Logik der Kapitalakkumulation unterworfen. So wird das sich im Markt vermehrende Geld zum Gott der Moderne.“ (Duchrow)

 

Das Recht des Stärkeren, der sich mit allen Mitteln Vorteile verschaffen muss, um nicht unterzugehen und der genau darin den Sinn seines Daseins erfüllt sieht, diese Denkfigur der Moderne galt auch für die Weltkriege des 20. Jahrhunderts.

Hitler wollte im Osten einen ähnlichen Vorgang wiederholen wie bei der Eroberung Amerikas. Dafür sollten die Europäer*innen andere Europäer*innen so sehen lernen, wie sie die Ureinwohner*innen Amerikas oder Afrikas sahen, als Naturvölker. Die Slawen würden „wie Indianer“ kämpfen. Hitler komprimierte die gesamte Kolonialgeschichte und einen grenzenlosen Rassismus in der knappen Formulierung: „Unser Mississippi muss die Wolga werden“. Der Mississippi war einst die Linie, hinter die Thomas Jefferson alle Indígenas vertrieben hatte. Nach den Untersuchungen von T. Snyder war Hitler kein deutscher Nationalist, der sich des deutschen Sieges sicher war: „Er war ein in zoologischen Kategorien denkender Anarchist, der an einen wahren Naturzustand glaubte“. Der gescheiterte Feldzug im Osten brachte ihm die neue Naturerkenntnis, dass die Deutschen in Wirklichkeit keine Herrenrasse waren. Deshalb: „.. soll .. (dieses Volk) vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden.“ Er änderte im Verlauf des Krieges seine Einstellung gegenüber der Sowjetunion und den Russen. Diese seien bei näherem Hinsehen keine Untermenschen. Damit, so Hitler, „gehöre dem stärkeren Ostvolk ausschließlich die Zukunft“.

 

Das sahen die Westalliierten natürlich anders. Im Kalten Krieg ging es – zumindest in Europa – auch um die Zustimmung der Bevölkerung zum jeweiligen Lager. Der Kapitalismus brauchte hier ein „menschliches Antlitz“ (Noam Chomsky). Dynamisches Wirtschaftswachstum allein reichte nicht. So kam es zu einer außerordentlichen Erweiterung des Sozialstaates in allen westeuropäischen Ländern. Der Marshall-Plan „war wahrscheinlich das erfolgreichste Entwicklungshilfeprojekt der Weltgeschichte“ (George Soros). Im Londoner Schuldenabkommen 1953 wurde der größere Teil der Schulden Deutschlands erlassen, der Rest in Moratorien auf unbefristete Zeit und zinsfrei gestundet. Im Krieg hatten die USA der Sowjetunion einen Unterstützungskredit von zehn Milliarden Dollar gewährt. Im Gegensatz zu Deutschland musste die Sowjetunion den Kredit zurückzahlen, obwohl sich dieses Land noch lange Jahre an der Grenze zur Hungersnot befand.

Außerhalb Europas sah es mit der Menschlichkeit überhaupt anders aus. In vielen Ländern des Südens kamen mit Hilfe der USA Diktatoren an die Macht. Beispiele sind Persien (1953 - heute Iran), Kongo (1960), Brasilien (1964), Indonesien (1965/66) und vor allem Chile (1973).

 

In den 1960er und frühen 70er Jahren war die Linke besonders in Südamerika die dominante Massenkultur. Die Poesie von Pablo Neruda, die Musik von Victor Jara und Mercedes Sosa, die Befreiungstheologie von Gustavo Gutiérrez, das emanzipatorische Theater von Augusto Boal, die Pädagogik von Paulo Freiré und nicht zuletzt der revolutionäre Journalismus von Eduardo Galeano deuteten einen Weg für den Kontinent an, der aus vielfältiger Unterdrückung herauszuführen versprach. Doch die USA, durch die Selbstzerstörung Europas in den Weltkriegen zur „Number One“ aufgerückt, beendeten diese Hoffnung im sogenannten „Krieg gegen den Terror“.

Die Militärregime in Brasilien, Chile, Uruguay und Argentinien führten in Wirklichkeit Krieg gegen alles, was sich der neoliberalen Wirtschaftsordnung in den Weg stellte. Sie benutzten faschistische Floskeln wie Säubern, Reinigen, Ausmerzen und Heilen. Der Terror kam von oben. Der Friedensforscher Johan Galtung bezeichnet diese Vorgänge als eine Art von Faschismus, als „westliche Zivilisation im Extrem“. In Deutschland und Italien war der Faschismus zwar besiegt worden. Der Neoliberalismus trat jedoch seine von den Regierungen legitimierte Nachfolge an.

 

Die Aufgabe der Diktaturen im globalen Süden bestand auch darin, westliche Produkte auf Kredit zu kaufen. Die so entstandene Verschuldung der öffentlichen Haushalte wurde später von den westlich dominierten, undemokratischen Institutionen Internationaler Währungsfond (IWF) und Weltbank (WB) genutzt, um soziale Fortschritte durch Strukturanpassungsprogramme (SAPs) zu schleifen. Massive Erwerbslosigkeit, der Verlust nationaler Ressourcen in schlechten Terms of Trade sowie zunehmende Gewalt unter den Menschen in den betroffenen Ländern waren die Folge.

 

1973 erschien das für die lateinamerikanische Befreiungstheologie grundlegende Buch des Peruaners Gustavo Gutiérrez: „Theologie der Befreiung“. Für ihn steht die alternative Spiritualität der Achsenzeitreligionen wieder im Vordergrund. Als prophetische kritische Reflexion des umfassenden Lebens des Volkes (Gottes) in der Welt muss Theologie politisch sein. Die kritische Reflexion der Praxis führt Gutiérrez dazu, den Leitbegriff Entwicklung durch Befreiung zu ersetzen. Der Begriff Entwicklung bezieht sich auf das westliche kapitalistische Wachstumsmodell. Wer sich nicht in diesem Sinn entwickelt, gilt als unterentwickelt. Lateinamerika aber brauchte einen umfassenden Befreiungsprozess, eine soziale Revolution inclusive der Eigentumsverhältnisse. Die Menschen sollten wieder Subjekte und Gestalter ihres Geschickes sein können.

 

Heute sind die Folgen jahrzehntelanger neoliberaler Politik weltweit überdeutlich zu sehen. Die am Anfang genannten Krisen bestimmen abwechselnd die Schlagzeilen. Und sie verstärken sich gegenseitig. Die Suche nach marktkonformen Lösungen ist längst selber ein Problem. Wer Fluchtursachen bekämpfen möchte, sollte von Land Grabbing, dem Überfischen der Meere, dem subventionierten Fleisch, welches lokale bäuerliche Ökonomien zerstört, den Hungerlöhnen in der Bekleidungs- bzw. Elektronikindustrie oder den Rüstungsexporten, welche bewaffnete Konflikte anheizen, nicht schweigen.

Doch anstatt diese Dinge anzusprechen, schottet die EU ihre Außengrenzen mit modernster Technik ab. Dort sind (trotz der Rettungsaktionen, die eher der Bekämpfung der Schlepper gelten) seit dem Jahr 2000 über 35 000 Menschen ums Leben gekommen. Dieses Massensterben nimmt die EU billigend in Kauf. Beruft sie sich nicht eigentlich auf Werte wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Wahrung der Menschenrechte auch für Minderheiten? Gemessen an diesem Anspruch steht das Projekt Europa vor dem Aus.

 

Weltweit erweist sich der Neoliberalismus als ein System, in dem Menschen nicht mehr nur ausgebeutet, sondern ausgeschlossen werden. Für alle Bereiche des Lebens gilt das Wertgesetz des Marktes absolut. Daher fallen 40 Millionen Menschen jährlich dem Hunger und seinen Folgen zum Opfer. Wenn Menschen nicht mehr geschützt werden (können), wie sollte das dann mit den Gemeingütern Umwelt und Klima gelingen? Seit den 1980er Jahren steht die Erde selbst als Lebewesen (Gaia) auf der Liste der bedrohten Arten. Die westliche kapitalistische Zivilisation ist auf suizidalem Kurs, wie Papst Franziskus es nennt, auf dem Weg in den Tod.

 

Die Gretchenfrage: TINA oder TATA?

Die Politiker*innen der reichsten Industrieländer (G 7) beharren dennoch seit Jahrzehnten auf ihrer Position: „Es gibt keine Alternative“ (TINA – there is no alternative). Sie setzen auf Freihandel, über den nicht mehr demokratisch entschieden wird. Sie entlassen große Banken und Unternehmen aus ihrer Verantwortung. Kosten für soziale Standards, Gesundheit und Umweltschäden werden nicht gemessen und bilanziert sondern als Nebenkosten wie von unsichtbarer Hand ausgelagert. Die Erde ist zum Global Sourcing freigegeben.

Die Globalisierungskritikerin Susan Georg antwortete auf dieses TINA – Syndrom mit ihrem Ausruf „TATA!“ (there are thousends of alternativs). Das Weltsozialforum in Porto Alegre (2001) prägte dann den Satz: Eine andere Welt ist möglich.

 

Eine neue Kultur wird lebensnotwendig, in der sich nicht mehr Sieger- und Verlierer*innen begegnen oder Konkurrent*innen gegenseitig ausschalten, sondern in der sich Menschen als globale Lebensgemeinschaft sehen und verstehen lernen. Dabei erscheint es wie eine Analogie zur Achsenzeit: in all den Weltreligionen, die damals entstanden sind, kommt es seit den 1960er Jahren zu befreiungstheologischen Aufbrüchen. Diese entstehen als Antwort auf Entwicklungen, wie sie sich im modernen imperialen Kapitalismus krisenhaft zuspitzen.

 

Erwähnt sei die jüdische Befreiungstheologie, zu der die Solidarität zu den Palästinenser*innen gehört. Ein zentraler Begriff ist die „Jüdische Erneuerung“ (Rabbi Michael Lerner), bei der es auch um die Überwindung der Selbstbezogenheit der Marktwirtschaft sowie der kapitalistischen Formen des Eigentums und des Geldes geht. In den USA wendet sich dieser Ansatz seit der Bush-Ära gegen die religiöse Rechte, die Gott in einen patriarchalischen imperialen Götzen verwandelt hat.

 

Der „progressive Islam“ erklärt Gerechtigkeit sowohl im persönlichen Leben wie auch in Wirtschaft und Gesellschaft zum Herzstück der Theologie. Er wendet sich gegen eine Pax Americana, gegen Neokolonialismus und wirtschaftliche Ausbeutung im Dienst des Marktes. Im Westen wird diese Strömung kaum wahrgenommen. Das Bild ist hier eher durch eine konfliktreiche historisch tief verankerte Kulturgeschichte geprägt, deren Aufarbeitung uns helfen könnte, Vorurteile abzubauen und den Westen kritisch durch die Brille der „Anderen“ zu sehen.

 

Die Bewegungen des engagierten Buddhismus greifen - ähnlich wie abrahamitische Befreiungstheologien - angesichts der aktuellen wirtschaftlichen und ökologischen Krisen auf ihre ältesten Texte und Grundlagen zurück. Deren Auslegung lösen sie aus der individualistischen Engführung besonders im Blick auf die Themen Ökologie, soziale Gerechtigkeit und Frieden. So erkennen sie drei Gifte als Ursachen des Leidens: Gier, die sich in den treibenden Kräften des Kapitalismus institutionalisiert (Vermehrung des Geldes und Konsumismus), Hass, der zum imperialen Militarismus mit seinem Zwang zur Aufrüstung führt und gleichzeitig den Profiten der Industrie dient und schließlich das illusionäre Bewusstsein, welches Werbung und Medien transportieren.

 

Religionen können mit ihren befreienden Theologien durchaus zur Überwindung der Zivilisationskrise beitragen. Sie sind aber auch Teil des Problems. Gerade das Christentum stand nach seinem Wandel von einem machtkritischen Glauben an den befreienden Gott zu einer staatstragenden Ideologie immer in der Versuchung, sich den herrschenden Verhältnissen anzupassen. Heute geht es um die gespaltene Meinung zum imperialen Kapital und zur westlichen Zivilisation. Die Kirchen reicher Länder äußern sich nicht selten marktkonform mit verschleiernden Begriffen. So wollen sie Das Soziale neu denken („Impulspapier“ der Katholischen Bischofskonferenz) oder nähren die Illusion, wir hätten noch eine soziale Marktwirtschaft als Leitbild des politischen Handelns (EKD, Unternehmerdenkschrift). Damit gefährden sie die Bemühungen der ökumenischen Bewegung, ein klares Bekenntnis in Wort und Tat zur Überwindung des imperialen Kapitalismus zu finden, wie zum Beispiel bei dem Bekenntnis von Accra (2004).

Das Christentum sollte nicht als die allein seligmachende Religion auftreten. Vielmehr geht es wie bei Paulus um die Kraft, einen Raum zu schaffen für das gerechte Zusammenleben – damals der Juden und Griechen im Römischen Reich, heute der Menschen verschiedenen oder keinen Glaubens in der bedrohten einen Welt.

 

 

Quellen:

Duchrow, Ulrich, Gieriges Geld, Kösel-Verlag, 2013

Hinkelammert, Franz Josef, Reflexionen zum Schuldenproblem: die Entleerung der Menschenrechte, www.itpol.de

Klein, Naomi, Die Schockstrategie, S. Fischer, 2007

Schellnhuber, Hans Joachim, Selbstverbrennung, C. Bertelsmann, 2015

Snyder, Timothy, Black Earth, C.H.Beck, 2015

 

 

Letzte Änderung am Donnerstag, 20 Oktober 2016 13:18

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