Das Konzept Entwicklungspolitik entstand nicht in den Ländern des Südens
Esteva (1993) rezitiert den ehemaligen US-Präsidenten Harry S. Truman und dessen Entwicklungsvorstellungen mit folgenden Worten: „Im Januar 1949 bekundete Truman: ‚Wir müssen ein kühnes Programm aufstellen (…) und die Segnungen unserer Wissenschaft und Technik für die Erschließung der unterentwickelten Weltgegend zu verwenden (…). Der alte Imperialismus – das heißt die Ausbeutung zugunsten ausländischer Geldgeber – hat mit diesem Konzept eines fairen Handels auf demokratischer Basis nichts zu tun‘“. Die Entwicklungspolitik, die nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert wurde, ist aber ein außenpolitisches Instrument der Industrieländer für die so genannten armen Länder. Sie ist ein wirtschaftspolitisches Modell, das vor allem den Großunternehmen der Geberländer Vorteile verschafft. Sie sollen beim Zugang zu Absatzmärkten und strategischen Rohstoffen in den Nehmerländern helfen. Dadurch ist sie eurozentristisch.
Erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war es soweit, dass auf der Grundlage der westlichen Grundwerte für Entwicklung, die als universal gepriesen wurden, relativ eigene Vorstellungen über den Fortschritt in den Ländern des Südens entstanden. Es sei nur an die „Importsubstituierende Industrialisierung“ von Raul Prebisch gedacht oder an die Agrarreformen im Guatemala der 1950er Jahre und die sozialen Reformen von Allende in Chile (1973) – doch Letztere wurden auch durch die Mächte des Nordens auf brutalste Weise niedergeschlagen.
Im Laufe der Zeit wurde klarer, warum die Industrieländer wichtige Voraussetzungen, die zu ihrer Entwicklung beigetragen haben, unter ihren Fittichen behielten. Wissenschaft, Technik (auch Rüstungsindustrie), internationale Geldpolitik, elitäre Bildung und Massenmedien dienen im Wesentlichen zum Ausbau ihres alleinigen Herrschaftssystems. Was sie nicht sagen, aber dennoch tun, trägt ebenfalls zu ihrer dominanten Position auf der Welt bei: die Zerstörung der Wälder, Flüsse und natürlicher Lebensgrundlagen der Tiere und Menschen, vor allem in den Ländern des Südens. Dazu kommt die unbegrenzte und rapide Verschwendung der Rohstoffe und menschlicher Energie. Den „Anschluss an die Moderne“ bekommt der Entwicklungsbegriff ab Ende der achtziger Jahre mit dem Aufstieg von Premierministerin Margaret Thatcher in Großbritannien und dem US-Präsidenten Ronald Reagan. Deren hegemoniale, neoliberale wirtschaftspolitische Vorstellungen – ein Stichwort dafür ist der „Washington Consensus“ von 1989 – verpasst auch der Entwicklungslogik einen bis heute entscheidenden Schub aufgrund einer geeigneten Anpassung an die und Vereinnahmung durch die Globalisierung.
Inzwischen wird Entwicklungspolitik nicht nur durch die staatlichen Instanzen betrieben, sondern auch durch zivilgesellschaftliche Akteure und Institutionen, die andere moralische und ethische Werte haben und sich allmählich bewusst wurden, dass es so nicht weiter gehen darf. In den letzten 20 Jahren haben einige dieser Institutionen auf die politische Bildungsförderung sozialer Organisationen der armen Länder gesetzt. Ein Paradebeispiel dafür ist Bolivien und die indigene Bewegung. Ohne die Unterstützung auch durch die NGOs, wäre ein Evo Morales an der Macht nicht zu denken. Seine Regierung nahm die Rohstoffmonopole an die Kandare. Diese mussten nun mehr Steuern zahlen. So ließen sich soziale Programme der Regierung finanzieren. Heute stellt sich dort die Frage, warum die bolivianische Regierung die Mehreinnahmen nicht in die Quinoaproduktion oder ähnliche Bereiche steckte. Stattdessen setzt die Regierung Morales auf mehr Ausbeutung von Rohstoffen wie Lithium. Das hat aber wahrlich mit dem Vivir Bien oder Buen Convivir (gut Zusammenleben) von Mensch und Natur nichts zu tun. Die Frage ist,
ob die bolivianische Regierung, andere Südländer und auch die NGOs nicht besser mehr Geld in die politische Bildung und Weiterbildung ihrer Bürger für ihr Lebensmodell investieren sollten?
Helfen wir dem System zu überleben, das von Ausbeutung und Zerstörung lebt?
Vor 20 Jahren hat sich das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen (ENS) gegründet. Vor 22 Jahren aber schon erschien das Buch von Sachs mit bedeutenden Autoren und Akteuren, die die Entwicklungspolitik als Handlungsoption ablehnten. Seit 20 Jahren betreibt das ENS nichtstaatliche Entwicklungspolitik und agiert mit einem historisch geprägten Entwicklungsbegriff und der Logik seiner Handlungsweise.
Es ist vielleicht doch Zeit uns einigen Fragen zu stellen. Deshalb finden wir es wichtig gemeinsam zu reflektieren: Mit welcher Entwicklungslogik arbeiten wir eigentlich? Was haben wir als ENS in 20 Jahren erreicht? Welchen Beitrag haben wir in der Beziehung und Problematik Nord-Süd oder Nord-Ost geleistet? Oder wir drehen die Frage um: Was hat das Entwicklungskonzept und seine Logik mit uns als Individuen, als Menschen, als Verein, als Netzwerk, als Zivilgesellschaft gemacht? Welchen Einfluss und welche Wirkung haben sie in den letzten 70 Jahren auf uns ausgeübt? Wie gut haben wir uns in unserer Rolle eingerichtet? Die Weltläden, Konferenzen, Tagungen und Vorträge, der tausendste Workshop, das x-te Festival für... – bewährte Instrumente oder überholte Angebote? Kämpfen wir für eine Sache oder lediglich mit bequemen Mitteln? Wo politisieren, provozieren wir? Wie viel Bildungsarbeit wollen wir noch betreiben, die den Graben zwischen Wissen und Handeln doch nicht überwindet? Nur damit wir uns freuen können, dass unsere Festivals jetzt stadtweit bekannt sind oder bei einer unserer Veranstaltungen mehr als zehn Personen waren oder inzwischen mal ein_e berühmte_r Redner_in „von unserer Seite“ gezogen hat? Wir entwickeln fesche Formate, interessante Anreize oder spaßige Methoden, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Dabei ist die Masse doch eh schwer zu erreichen und noch schlechter zu organisieren. Am nächsten Tag kauft sie sich dann doch ein Auto, ein Schnitzel, ein Flugticket, eine Wohnung oder ein neues Handy und wir biedern uns daneben an: nehmt uns wahr mit unseren Belangen für die Eine Welt, mit unserem Zeigefinger wegen der Umwelt, mit unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit – und für die werden wir
auch noch belächelt. Am Ende ist es die Wirtschaft, der eine zu starke Ungleichheit nicht zuträglich ist und nicht der Mensch, für den wir Projektanträge schreiben. Ruhen wir uns aus, denn wir sind ja fein raus? Die Arbeit gibt schon her, dass man kein schlechtes Gewissen haben muss. Man kauft nicht nur den fair gehandelten Kaffee, man bewirbt ihn auch (und überlegt nicht, den Kaffeekonsum zu überdenken, ein Luxusgut daraus zu machen und Kaffeebauern andere Lebensperspektiven zu eröffnen). Man verhilft zu Absatzmärkten und zur Einbindung in das globale Handels- und Wirtschaftssystem. Wir sind dann Teil der WFTO (World Fair Trade Organisation - Anm. der Red.) und bilden erneut eine vermeintlich bessere Ausprägung jenen Übels, das uns bis hierher gebracht hat.
Vor zwei Jahren wurde ein Diskussionsprozess im ENS-Koordinationsteam initiiert – zunächst langsam und „tollpatschig“. Ungenauigkeiten, Skepsis, Zweifel, Unverständnis und Zeitnot sind immer wieder da und nicht immer dafür. Aber hartnäckig und manchmal mit Zähneknirschen hat sich das „Vorhaben“ allmählich und wackelig „stabilisiert“. Mit jeweils einem Treffen in Leipzig, Bischofswerda (für Ostsachsen), Zwickau (Südwestsachsen), (Einzugsbereich) Dresden und Großenhain (Nordsachsen) möchten wir, das ENS-Team und Vorstandsmitglieder, die Mitgliedsvereine dieser Regionen zusammenbringen und uns mit ihnen über die Anwendung
und „Nebenwirkungen“ des entwicklungspolitischen Ansatzes in der Auslands- und Inlandsarbeit austauschen, auseinandersetzen und gemeinsam lernen. Unsere entwicklungspolitische Arbeit soll hinterfragt werden: Warum machen wir es so? Wo wollen wir hin? In welche Richtung? Was machen wir eigentlich? Wofür? Diese Grundsatzfragen stellen sich uns als Mensch, als Verein, als Netzwerk und als politische Akteure der Zivilgesellschaft und in der internationalen Zusammenarbeit. Als Netzwerk haben wir die Möglichkeit verschiedene Aspekte und Arbeitsweisen zu überblicken. Eure Erfahrungen aus dem alltäglichen Widerstand und Überlebenskampf
bringen bestimmt neue Erkenntnisse für unsere Netzwerkarbeit in der alten Kontroverse um die Entwicklung. Miguel Ruiz, Muruchi Poma und Antonia Mertsching haben sich auf den Weg macht, um sie einzusammeln.
Washington Consensus (1989) bezeichnet ein Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die Industrieländer zur Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum in der Welt durchführen sollten.