Warum Produkt-Siegel nicht für die Einhaltung von Menschenrechten sorgen
Mit Produkt-Siegeln werden Produktionsstätten zertifiziert. Dies geschieht über so genannte Sozialaudits, die von Auditfirmen durchgeführt werden wie TÜV, SGS, IMO, Intertek, Bureau Veritas oder FLO-CERT. Sie bilden ein Billionen-schweres internationales Geschäft. Audits sind die Abarbeitung von Check-Listen, sie führen nicht zu einer realistischen Situationsbeschreibung. Sie sind nicht geeignet, um komplexe Problemlagen wie die Überstundenbezahlung, Vereinigungsfreiheit oder Diskriminierung zu erfassen und zu bearbeiten.
Kommerzielle Auditfirmen können die Wahrheit über Arbeitsbedingungen nicht zu Tage fördern, weil sie das „Königsinstrument“ dafür nicht in ihrer Werkzeugkiste haben: Off-site Workers Interviews – anonyme Beschäftigteninterviews außerhalb der Fabrik, die ohne negative Folgen für die Befragten bleiben.
Damit verlagern Zertifizierungs-Modelle die menschenrechtliche Verantwortung auf die
Lieferanten (Die Sub- und Sub-sub-Unternehmen bleiben dabei auch noch unberücksichtigt; dort jedoch finden sich die problematischsten Zustände!). Sie bezahlen das Audit. Der Lieferant hat auch für die Korrekturen, also beispielsweise Lohnerhöhungen, zu sorgen, ohne jedoch einen besseren Preis zu erzielen, um Verbesserungen von Arbeitsbedingungen auch finanzieren zu können. Bei wiederholter Nicht-Einhaltung wird das Siegel entzogen, statt einen konstruktiven Prozess anzustoßen.
Ein mehr-versprechender Ansatz: Multi-Stakeholder-Initiativen (MSI)
Durch die Mitgliedschaft in einer MSI verpflichtet sich das gesamte Unternehmen(!) sukzessive die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dies beinhaltet Verfahren für unabhängige Überprüfungen (inkl. Off-site Workers Interviews), die Erstellung von Verbesserungsmaßnahmeplänen (Corrective Action Plans), ethische Einkaufspraktiken, branchenweite Zusammenarbeit und die Berücksichtigung genderrelevanter Themen.
Dabei wird mit Gewerkschaften, Nicht-Regierungsorganisationen (NROs) und lokalen Organisationen zusammengearbeitet.
Produkt-Zertifizierungsmodelle fordern die Unternehmensverantwortung und menschenrechtliche Sorgfaltspflicht damit NICHT auf Seiten des Handels und seiner Einkaufspraktiken ein, sondern verlagern diese auf die Lieferanten und Zertifizierer. Beim MSI-Ansatz dagegen erkennt das Unternehmen seine Verantwortung für die Arbeitsbedingungen an und arbeitet an deren Umsetzung mit.
Kann der FLO-Textilstandard (Stand März 2015) Menschenrechte sicherstellen?
Im Bemühen, mit seinem Textilstandard systematisch in den Mainstream-Handel vorzudringen, beinhaltet die Standard-Präambel die bloße Einhaltung von Menschenrechten, verleiht aber dem Standard dann diverse Schlupflöcher, um diese Messlatte zu unterschreiten – z. B. beim Lohn.
Das Siegel darf verwendet werden, bevor z. B. ein Existenzlohn1 gezahlt wird. Bis zu neun Jahre sind für dessen komplette Umsetzung erlaubt. Das Siegel darf vergeben werden, ohne dass es funktionierende, demokratische Gewerkschaften gibt . Es geht jeder Anreiz für Unternehmen verloren, sich ernsthaft in bestehenden, weiter reichenden Initiativen zu engagieren – geschweige denn signifikante Fortschritte in Arbeitsbedingungen zu erreichen. Lizenznehmer können ihre Produkte zu höheren Preisen verkaufen, ohne ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nachgekommen zu sein.
In Bezug auf den Kernbereich des Fairen Handels – erhöhte Einkaufspreise der Fairhandels-Firmen bei den Lieferanten – besteht eine Leerstelle im FLO-Textilstandard. Er enthält keine Hinweise auf ein Fairtrade-Premium oder einen garantierten Mindestpreis.
Die Gestaltung der Einkaufsbedingungen spielt also insgesamt eine untergeordnete Rolle im FLO- Textilstandard. Korrekturmaßnahmen, z.B. Lohnerhöhungen, müssen jedoch verbindlich durch Anpassung der Einkaufspreise und -bedingungen ermöglicht werden.
Des Weiteren nennt der Standard GOTS, FWF, BSCI, ETI und SA8000 als akzeptierte Kontrollsysteme. Aufgrund der gravierenden Unterschiede in Qualität und Herangehen zwischen diesen Systemen ist ihre Gleichsetzung hochproblematisch. Die Probleme mit der Zertifizierung nach GOTS, BSCI oder SA8000 wurden oben beschrieben – sie treten produktbezogen auf. Unternehmen, die sich dem Multi-Stakeholder-Ansatz nach FWF oder ETI unterziehen, sind (noch) nicht fair und behaupten dies auch nicht von sich.
Darüber hinaus sind kommerzielle Zertifizierungs- und Auditfirmen wie FLO-CERT stark durch Einzelinteressen geprägt. Auch wenn es externe Firmen gegenüber den zu prüfenden sind, können sie nicht als unabhängig und überparteiisch gelten. Das von FLO-CERT vorgesehene „electronic certification system“ formalisiert, technisiert und entfernt den Kontrollprozess weiter von seinen eigentlichen Subjekten, den Arbeiter*innen. Sie werden zu Objekten formalisierter Managementinstrumente. Mit diesem FairTrade-Textilsiegel wird die Enteignung und Entfremdung der Arbeiter*innen von dem Prozess der Durchsetzung ihrer Rechte vorangetrieben, wie er prinzipiell in Audit-/Zertifizierungsmodellen angelegt ist.
Fazit
Fairtrade unterstützt damit „Fair-PR“ anstelle sektorweiter, ganzheitlicher, verbindlicher
Verbesserungsprozesse. Mehr noch: Kernansprüche des Fairen Handels und der Fairhandels-Bewegung wie Mindestpreise, Partizipation und Empowerment löst er nicht ein. Damit unterhöhlt FairTrade teils seine eigenen FairTrade-Normen und erweist mit dem weiter aufgeweichten Textilstandard den Menschenrechten bei der Arbeit einen katastrophalen Dienst.
Er führt Verbraucher*innen in die Irre und bringt Unternehmen davon ab, sich in weitergehenden, prozessorientierten und sektorweiten Initiativen in Multistakeholder-Settings zu engagieren. Da solche Initiativen vorliegen, fällt der FLO-Textilstandard ihnen in den Rücken. Die Vermutung liegt nahe, dass der Textilstandard menschenrechtlich anspruchslos ist, um seine Marktgängigkeit zu erhöhen.
Weltläden oder Menschenrechtsorganisationen wie die Clean Clothes Campaign (CCC) übten öffentlich Kritik an der Aufweichung der Fairhandels-Standards. Auch das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen hat sich an Fairtrade gewandt und unterstützt die CCC-Position zum Entwurf des FLO-Textilstandards. Wir haben insbesondere auf die Folgen für die Fair Handels-Bewegung insgesamt hingewiesen ebenso wie auf die Folgen für die Arbeiter*innen, deren Interessen wir hier versuchen zu vertreten.
Abkürzungsverzeichnis
BSCI: Business Social Compliance Initiative
CCC: Clean Clothes Campaign
ETI: Ethical Trading Initiative
FLO: Fairtrade Labelling Organization International
FLO-CERT: Fairtrade certification & verification
FWF: Fair Wear Foundation
GOTS: Global Organic Textile Standard
IMO: Institut für Marktökologie
SGS: Société Générale de Surveillance
TÜV: Technischer Überwachungsverein
1Ein Existenzlohn muss laut Clean Clothes Campaign ein bedingungsloser Basis-Nettolohn sein, der für alle Beschäftigten garantiert ist. Der Richtwert muss das Ergebnis eines transparenten politischen Prozesses unter Einbeziehung von Stakeholdern, v.a. ArbeiterInnen und ihrer Organisationen, sein.