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Hinter dem AfD-Wahlerfolg stecken Entwurzelung und
Sinnleere, der mit politischer Kosmetik nicht beizukommen
sein wird

 

Bis auf die immer Unerreichbaren haben es doch so gut wie alle im Gefühl: Das war am 24.September nicht einfach eine übliche fällige Bundestagswahl! Demokratische Routine auf Bundesebene sozusagen. Sitzen jetzt halt sieben Parteien im Bundestag, wenn man den Eitelkeiten der Bayerischen CSU Rechnung tragen will, die es am liebsten hätte, wenn die Restbundesrepublik dem Freistaat beitreten würde. Nicht nur die zuvor noch nie so da gewesene Kräftekonstellation unter den Bundestagsfraktionen signalisiert Besonderes. Der ungeschriebene Artikel Null des Grundgesetzes scheint Koalitionen mit Randparteien von Rechts und Links zu verbieten, also bleibt nur die Jamaika-Option. Wenn man ein Anhänger der Konsensdemokratie ist, kann man das sogar gut finden. Denn jetzt müssen sich politische Gegner für eine Koalitionsvereinbarung zusammenfinden, die sich bislang wie Hund und Katze angeschnauzt oder wie Kaninchen und Schlange belauert haben. Plötzlich müssen sie miteinander darüber reden, was wirklich für das Wohl des Landes gut wäre.

Aber um ein Land, um ein Deutsch-Land ging es bei dieser Wahl nur bedingt. Wenn der Blitzerfolg der erst um die Zeit der vorigen Bundestagswahl gegründeten AfD zu etwas taugt, dann zur Veranschaulichung, wie sehr einerseits dieses Deutschland gespalten ist und wie sehr andererseits die Zustände auf unserem gesamten Globus in das Wählerempfinden hineinspielen. Denn dies war in erster Linie eine von Emotionen bestimmte Wahl. Der gekränkte und verunsicherte Ossi demonstrierte sein Unbehagen geradezu an der Wahlurne. Und die gesamtdeutsche Abwehrhaltung gegenüber den Fremden, die uns mit ihrer bloßen Präsenz auf unhaltbare Zustände in den zahllosen Problemgebieten dieser gemeinsamen Erde hinweisen, indiziert, dass wir uns diesen Problemen auf Dauer gar nicht werden entziehen können. Gemeinsam ist dieser innenpolitischen und der globalen Komponente des Wahlverhaltens die dahinter aufscheinende ethische und kulturelle Orientierungslosigkeit viel zu vieler Bürger.

Der aussichtslose Aufholprozess Ost

Es hat viele überrascht, dass 27 Jahre nach dem euphorischen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die nachfolgenden Brüche und Enttäuschungen noch einmal so hochkochen. Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) hat schon lange vor dem einsetzenden Wahlkampf die sensibelste Antenne dafür entwickelt. Bei Gesprächen mit besorgten oder Wutbürgern kehrten die Geschichten aus den 1990-er Jahren immer wieder. Jetzt, da viele der damals tragenden Generation auf die Rente zugehen oder bereits Rente sind, Lebensentwürfe jedenfalls nicht mehr zu korrigieren sind, werden sich viele der lange verdrängten Enttäuschungen erst wirklich bewusst. In Sachsen hat die Ära Biedenkopf einen solchen Gefühlsstau lange unter dem goldenen Mantel des selbstverklärenden Sachsen-Mythos verstecken können. Auch dafür ist die Sächsische Union spät abgestraft worden.

Interessanterweise hat aber nicht die SPD davon profitiert, die sich als neue Kümmererpartei Ost selbst entdeckte und damit die Nachfolge der Linken antreten wollte. Die AfD hat den ostdeutschen Generalfrust kanalisieren können, dessen Ausmaße auch den Journalisten überraschen, der seit drei Jahren Pegida aufs Maul schaut und im Wahlkampf viel an der Basis unterwegs war. Für eine Diagnose muss man zwischen rational benennbaren Ursachen und den darunter liegenden Emotionen unterscheiden. Es gibt eben doch die Wendeverlierer*innen, die nach Verlust ihres Arbeitsplatzes nie wieder Fuß gefasst haben, die für die neue Wolfsgesellschaft nicht die nötige Abgebrühtheit mitbrachten. Es gibt Leute, die die Anpassung äußerlich zwar geschafft haben, aber innerlich leer geworden sind. Es gibt die 17 von der SPD ausgemachten Rentner-Problemgruppen, die rechnerisch klar benachteiligt werden. Eisenbahner oder Bergleute sind bei der Rentenüberleitung schlichtweg vergessen worden. Bei den 300.000 nach DDR-Recht geschiedenen Frauen gibt es hinsichtlich des im Westen üblichen Versorgungsausgleichs einen Konflikt von Rechtsgütern. Auf unabsehbare Zeit werden die Löhne im Osten dem Westen hinterherhinken, vergrößert sich der relative wirtschaftliche Abstand, werden Ossis nicht annähernd über das Vermögen und damit über die Möglichkeiten des Besitzerwerbs wie im Westen verfügen.

Ein namentlich von der CDU unterschätztes Problem verweist sozusagen auf eine entwicklungspolitische Binnenaufgabe. Die Urbanisierung schreitet fort, ländliche Räume, ja Kleinstädte überaltern und entleeren sich. Kapitalismus funktioniert wie das biblische Wort „wer hat, dem wird noch gegeben“, fördert also die Konzentration auf Oberzentren. Der frühere Finanzminister und Ministerpräsident Georg Milbradt beispielsweise hielt Theater in den drei sächsischen Großstädten für völlig ausreichend, weil ja jeder Sachse mit dem Auto binnen einer Stunde in Dresden, Leipzig oder Chemnitz ankommen und Kunst konsumieren könne, wenn er es denn unbedingt brauche. Hier gegenzusteuern, ist eine Aufgabe, die der CDU Sachsen beim ersten Wundenlecken nach dem Wahldebakel allmählich dämmert. Doch eine solche staatliche Aufgabe wäre nur mit einer massiven Umverteilung der Fördermittel zu lösen, die wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der Magneten Leipzig und Dresden beschneiden könnte.

Das ideelle Vakuum nach dem Ende der DDR

Reist man aber auf den Spuren des AfD-Erfolges durch das Lausitzer und niederschlesische Gebiet ihrer Rekordergebnisse von mehr als 40 Prozent, dann werden diese Gründe nicht einmal explizit benannt. Bürger*innen fühlen sich gar nicht so abgehängt, klagen vielleicht über eine schlechte Verkehrsanbindung, aber weniger über die Infrastruktur, müssen nicht nachts unter einer Brücke schlafen. Besonders in Grenznähe sind natürlich einige wütend über den gewerbsmäßigen Autoklau, andere witzeln sarkastisch über ihr Fahrrad, das jetzt irgendwo in Polen rolle. Und obschon im Sorbenland kaum jemand je einen Ausländer, geschweige denn einen Flüchtling gesehen hat, weiß man ja, dass Ausländer Unfrieden stiften. So hat man es jedenfalls über Bautzen gelesen.

Hört man aber länger und aufmerksamer zu, wächst die Erkenntnis, dass die sich bei der CDU abzeichnende Lösungsformel „Mehr Lehrer, mehr Polizisten, weniger Ausländer“ die Meckerei nicht beseitigen wird. Einige der AfD-Hochburgen liegen in Regionen, die sich noch zum erweiterten Speckgürtel von Dresden zählen. Der Grundstückserwerb zum Beispiel spricht dafür. Bürger*innen haben ihr Häuschen und ihr Einkommen und outen sich trotzdem als AfD-Wähler*innen. Warum? Beim Nachbohren fallen dann plötzlich Wendungen wie „gefühltes Unbehagen“ und „da ist so eine Heimatlosigkeit“. Allgemeine Überforderungsgefühle mischen sich mit einer apokalyptischen Grundstimmung. Die Digitalisierung, die nichts anderes ist als eine weitere Runde der Rationalisierung, steht als drohende Wolke am Heimathimmel. Der Informationsflut, die sie mit sich gebracht hat, sind die meisten schon längst nicht mehr gewachsen, vor allem ihrer kritischen Prüfung. Mit ihr erreichen uns auch die Bilder einer von Kriegen zerrissenen und von einem extremen Wohlstandsgefälle schief gezogenen Welt immer eindringlicher. Beim ehemaligen Direktor der Landeszentrale für Politische Bildung Frank Richter kommt der frühere Seelsorger wieder durch, wenn er vom Gefühl spricht, der Teufel sei im wahrsten Wortsinne los. Und dann suchen auch noch die reißenden Wölfe das Land heim!

Zugleich spüren immer mehr Bürger*innen intuitiv, dass dieser empfundene Weltschlamassel uns nicht verschonen wird. Es wird nicht so benannt, aber dass wir in einer Welt leben und gemeinsam für diese verantwortlich sind, dämmert zumindest als Ahnung herauf. Die schlichten Abwehrreaktionen besonders bei Ostdeutschen sind zunächst verständlich. Mit Mühe hat man sich nach den Wendewirren eine halbwegs solide Existenz aufgebaut. Die soll nicht durch eine vermeintliche Invasion von Ausländern, durch neue kollektive Integrationsleistungen oder gar eine Welthilfeleistung gefährdet werden. Vor allem aber fehlen der innere Halt, die Orientierung und die Motivation, um sich offensiv neuen Herausforderungen zu stellen. Der Nationalismus bietet einen Fluchtraum und ist so etwas wie Religionsersatz. Selbst die sozialistische Diktatur gab noch Halt, aber sie gilt als diskreditiert, und der alternativlose Kapitalismus fürchtet nichts mehr als Ideen und Visionen. Und genau so erscheinen dann seine politischen Exponenten*innen, die „weg müssen“ oder denen die AfD kräftig Feuer unter dem Hintern machen soll.

Hauptbaustelle bei den ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft

Das sind keine Einstellungen mündiger und souveräner Bürger*innen, aber die Reaktionen erscheinen menschlich verständlich. Es ist wichtig, zwischen dem größtenteils unerträglichen AfD-Parteipersonal und den Wählern*innen dieser Partei zu unterscheiden. Nicht nur statistisch belegt, sondern auch empirisch zu erfragen, trauen nämlich die Allerwenigsten dieser „Alternative“ eine wirkliche Alternative zu. Sie sollte auf keinen Fall regieren oder auch nur an einer Regierung beteiligt werden, ist in der Lausitz zu hören.

Wo ist dann die eigentliche Baustelle? Vor 46 Jahren hat der Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde ein nach ihm benanntes Theorem formuliert, das zumindest in der politischen Bildung bekannt ist. Demnach lebt der demokratische Staat von ethischen und kulturellen Grundlagen und Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen und garantieren kann. Sonst müsste er sie diktatorisch verordnen. Er muss sich also auf einen zivilgesellschaftlichen Minimalkonsens verlassen können. Genau der ist in Auflösung begriffen, hat das Wahlergebnis in alarmierender Weise gezeigt. Durch kosmetische Kurskorrekturen der etablierten Parteien wird er auch nicht wieder herzustellen sein, solange ihre Vertreter nicht tiefer blicken. „Die Politik ist am Ende“, ist gerade von Kulturleuten zu hören.

Auf diese sensiblen Menschen aber wird es ankommen, auf die so genannten Sinnstifter. „Es ist die Zeit der Künstler, der Philosophen, der Kirchenleute, derer, die eben nicht die Euro-Erbsen zählen“, sagt der Bautzener Theaterintendant Lutz Hillmann. Man könnte hinzufügen, dass es auch die Zeit all derer ist, die an das Gute im Menschen glauben und sich Empathiefähigkeit bewahrt haben. Das heißt auch, in globalen Zusammenhängen zu denken. Es gibt solche Menschen, wie die Bewährungsprobe der Flüchtlingsaufnahme 2015 gezeigt hat. Es gibt die Weiterdenker, die potenziellen Lehrer einer Gesellschaft, diejenigen, die mit künstlerischen oder wissenschaftlichen Mitteln oder durch ihr tätiges Engagement nach Antworten auf die bohrenden Fragen suchen.

Die entscheidende Frage ist nur immer wieder die nach der Reichweite, um es mit einem Terminus der Medienbranche zu sagen. Wen erreicht man? Es gibt – das mag man Pegida ausnahmsweise sogar zugute halten – eine wiedererwachte Diskussionsbereitschaft. Das heißt noch lange nicht, dass damit eine Debattenkultur einherginge. Sie hat den Zustrom zur destruktiven Meckererpartei AfD auch nicht gebremst. Und dennoch haben wir keine andere Wahl als die einer „inneren Mission“, um diesen Begriff aus der Evangelischen Kirche einmal zu verwenden. Noch einmal: Man sollte AfD-Wähler nicht verteufeln, sondern ihre weniger rationalen als emotionalen Beweggründe kennen lernen, auch wenn man sie nicht billigen kann und in ihren politischen Auswirkungen für gefährlich hält. Linke, aufgeklärte und weltbürgerliche Kräfte sollten ihrerseits nicht auch noch in ihrer Filterblase Halt suchen und nur noch mit ihresgleichen kommunizieren.

Viele wird man nicht erreichen, sie müssen vermutlich erst ihre ernüchternden Erfahrungen mit dem vermeintlichen Hoffnungsträger AfD machen. Aber dort, wo Menschen noch formbar sind wie in den Schulen, wäre es nun wiederum eine staatliche Aufgabe, klarere ethische, humanistische und kulturelle Postulate zu vermitteln. Damit sich aus diesen jungen Menschen eben eine tragfähige Zivilgesellschaft erneuert. Migrant*innen überhaupt bedürfen weniger unseres Schutzes als der Hilfe zu ihrer eigenen Emanzipation und Integration hier. Alle, die es gut mit ihnen meinen, sollten sich aber zugleich offensiv mit Problemen und negativen Begleiterscheinungen wie der Kriminalität einer kleinen Minderheit auseinandersetzen, um dem „gesunden Volksempfinden“ zu begegnen. Bräunliche Provokateure bekommen stets überproportionale Aufmerksamkeit. Kräfte, die unsere Gesellschaft im aufgeklärten und internationalistischen Geist wirklich noch zusammenhalten können, sollten sich viel lautstärker zu Wort melden.

Das sind einige meiner Vermutungen über die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen.

Die Ergebnisse der letzten Wahlen haben mich nicht überrascht. Ich habe schon in den letzten drei Jahren diese Entwicklung beobachten können und die komischen Blicke, die Angst in den Gesichtern einiger Mitmenschen wegen meines für sie fremden Aussehens und die Unzufriedenheit auf der Straße gespürt. Früher haben mich die Menschen nur als exotisch wahrgenommen. Dass sie mich nun als jemanden wahrnehmen, der gefährlich sein könnte, war für mich schwierig zu verarbeiten. Angst zu haben ist ein natürlicher Schutzmechanismus des Menschen, aber gefährlich wird es, wenn die Angst in Hass umschlägt, wie man es aktuell leider beobachten kann.

Für mich bedeutet Demokratie, dass alle Gesellschaftsgruppen in der Politik repräsentiert werden und sich aktiv beteiligen. Ich vergleiche Politik mit Religion. Politiker können viel Gutes schaffen, die Macht in den falschen Händen kann aber ebenso viel zerstören. Deshalb ist es so wichtig, bevor wir unsere Wahlentscheidung treffen, kritisch nachzudenken und uns zu fragen, von wem wir in der Politik vertreten werden möchte. Menschen sollten sich bei dieser Entscheidung nicht von Angst und Enttäuschung leiten lassen, sondern ihr Augenmerk auf nachhaltige und faire politische Strategien legen, von denen alle gesellschaftlichen Gruppen profitieren, auch die, die wir nicht verstehen.

Ich habe den Eindruck, dass auch in der Weltpolitik der Fokus darauf liegt, auszuwerten, was falsch gemacht wurde, statt zu schauen, was man besser machen könnte. Es werden keine friedlichen Dialoge geführt, die die Äußerung verschiedener Meinungen ermöglichen, ein Chance wirklich etwas aufzubauen und konstruktiv politische Entscheidungen zu treffen.

Ich wünsche mir mehr friedliche Dialoge, weniger Auswertungen, fairere und nachhaltigere politische Strategien sowie mehr Begegnungen zwischen den Menschen.

Progress is impossible without change, and those who can`t change their minds in the right direction (quality, respect, tolerance, health, education and access to development for everyone) cannot change anything.”

Unterstützt von Gerardo Palacios Borjas gründete das ENS zusammen mit über 30 anderen Organisationen im August 2017 das „Bündnis gegen Rassismus - für ein gerechtes und menschenwürdiges Sachsen“

 

Das Landesbüro Darstellende Künste Sachsen e.V. oder der Sächsische Wander- und Bergsportverband e.V., Parität und AWO – alle vereint das Bedürfnis, ein Zeichen setzen zu wollen:

  1. Wir sind sensibel für Rassismus in unseren eigenen Organisationen
    und setzen uns damit auseinander.

  2. Die öffentliche Positionierung gegen Rassismus in Sachsen ist uns
    ein wichtiges Anliegen. Was können und was wollen wir tun?

(aus dem Selbstverständnis siehe www.buendnisgegenrassismus.de)

Gerne stehen wir für weitere Verbände und sachsenweite Organisationen offen.

 

 

 

 


 

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